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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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reich an Talent und an wohlgemessener Kraft ist. Heftig arbeiten die Gegen¬
sätze und stark ist die Spannung, aber der Reichstag findet seinen Weg durch
formulirte Vorlagen gebahnt und hat die Regierung eines Reiches hinter sich,
welche durch große Erfolge gehoben, der aufsteigenden Lebenskraft ihres Staats-
körpers sich stolz bewußt ist. Die Deutschen werden auch die größte Tugend
einer parlamentarischen Körperschaft zu üben wissen: kluge Resignation, und die
preußische Regierung wird jetzt erfahren, daß, wenn man ein Volk groß be¬
handelt, man auch große Antwort erhält.

In der That ist schon jetzt die Stellung der neu Annectirten und selbst
die der kleinstaatlichen mit eigenen Regierungen klarer zu der deutschen Frage,
als die der Preußen selbst. Denn die Preußen haben bereits eine Vertretung
in dem Landtag eines großen Staates, und der gesetzliche Zustand, für welchen
dort die Parteien so scharf gegen einander gekämpft haben, der durch achtzehn
freudenarme Jahre mühsam eingebürgert ist, droht jetzt durch den neuen Bund
in Verwirrung zu gerathen. Daß der preußische Landtag in seiner bisherigen
Kompetenz nicht neben einem deutschen Reichstage bestehen kann, ist unzweifel¬
haft: ihn aufzugeben für eine kaum ausgesonnene, nicht bewährte Neubildung,
ist unmöglich. Zur Zeit weiß niemand in Preußen, auch die Leiter des Staates
nicht, wohin der Schwerpunkt preußischer Macht gravitiren wird, ob nach dem
alten Landtag, ob in die neue Versammlung des Reichs. Wie die officiöse
Presse verrieth, hat der Ministerpräsident im vorigen Frühjahr die stille Absicht
gehabt, den unsühnbaren Gegensatz zwischen Herrenhaus und Abgeordnetenhaus,
zwischen Ministerium und Opposition dadurch zu überwinden, daß er eine Volks¬
vertretung der Deutschen schuf, bei welcher ein"Theil des Budgets, zunächst das
Militärbudget, durch die Zollintraden und andere Steuern eisern fundirt werden
und das Parlament für die Verkehrsinteressen allmälig die Thätigkeit der alten
berliner Häuser an sich ziehen sollte. Dieser Plan ist durch die Ausnahme von
Sachsen und Darmstadt in den Bund vorläufig gestört worden. Graf Bismarck
selbst kann immer noch in die Lage kommen, den preußischen Landtag als Ver-
theidigungsmittel gegen den neuen Reichstag zu gebrauchen. Das preußische
Volk aber hat sich ebenfalls gewöhnt, seine Verfassung als letzte Bürgschaft
eines gesetzlichen Zustandes zu betrachten. Und das thun nicht nur die Libe¬
ralen, auch die conservativen Gutsherren werden von dem Augenblick, wo der
deutsche Reichstag ihre Parteiinteressen schädigt, sich um die sichere Burg des
preußischen Herrenhauses schaaren. Deshalb ist zur Zeit noch sehr fraglich, ob
man in Berlin den Wunsch und ob man die Kraft haben wird, die Vertretung
eines deutschen Reiches an Stelle der preußischen Landesvertretung zu setzen.
Und grade vor dieser Cardinalsrage unserer Zukunft wird uns am meisten fühl¬
bar, daß wir in einem Jntenmisticum leben, dessen glückliche Bewältigung wir
hoffen, zur Zeit nicht absehen.


reich an Talent und an wohlgemessener Kraft ist. Heftig arbeiten die Gegen¬
sätze und stark ist die Spannung, aber der Reichstag findet seinen Weg durch
formulirte Vorlagen gebahnt und hat die Regierung eines Reiches hinter sich,
welche durch große Erfolge gehoben, der aufsteigenden Lebenskraft ihres Staats-
körpers sich stolz bewußt ist. Die Deutschen werden auch die größte Tugend
einer parlamentarischen Körperschaft zu üben wissen: kluge Resignation, und die
preußische Regierung wird jetzt erfahren, daß, wenn man ein Volk groß be¬
handelt, man auch große Antwort erhält.

In der That ist schon jetzt die Stellung der neu Annectirten und selbst
die der kleinstaatlichen mit eigenen Regierungen klarer zu der deutschen Frage,
als die der Preußen selbst. Denn die Preußen haben bereits eine Vertretung
in dem Landtag eines großen Staates, und der gesetzliche Zustand, für welchen
dort die Parteien so scharf gegen einander gekämpft haben, der durch achtzehn
freudenarme Jahre mühsam eingebürgert ist, droht jetzt durch den neuen Bund
in Verwirrung zu gerathen. Daß der preußische Landtag in seiner bisherigen
Kompetenz nicht neben einem deutschen Reichstage bestehen kann, ist unzweifel¬
haft: ihn aufzugeben für eine kaum ausgesonnene, nicht bewährte Neubildung,
ist unmöglich. Zur Zeit weiß niemand in Preußen, auch die Leiter des Staates
nicht, wohin der Schwerpunkt preußischer Macht gravitiren wird, ob nach dem
alten Landtag, ob in die neue Versammlung des Reichs. Wie die officiöse
Presse verrieth, hat der Ministerpräsident im vorigen Frühjahr die stille Absicht
gehabt, den unsühnbaren Gegensatz zwischen Herrenhaus und Abgeordnetenhaus,
zwischen Ministerium und Opposition dadurch zu überwinden, daß er eine Volks¬
vertretung der Deutschen schuf, bei welcher ein"Theil des Budgets, zunächst das
Militärbudget, durch die Zollintraden und andere Steuern eisern fundirt werden
und das Parlament für die Verkehrsinteressen allmälig die Thätigkeit der alten
berliner Häuser an sich ziehen sollte. Dieser Plan ist durch die Ausnahme von
Sachsen und Darmstadt in den Bund vorläufig gestört worden. Graf Bismarck
selbst kann immer noch in die Lage kommen, den preußischen Landtag als Ver-
theidigungsmittel gegen den neuen Reichstag zu gebrauchen. Das preußische
Volk aber hat sich ebenfalls gewöhnt, seine Verfassung als letzte Bürgschaft
eines gesetzlichen Zustandes zu betrachten. Und das thun nicht nur die Libe¬
ralen, auch die conservativen Gutsherren werden von dem Augenblick, wo der
deutsche Reichstag ihre Parteiinteressen schädigt, sich um die sichere Burg des
preußischen Herrenhauses schaaren. Deshalb ist zur Zeit noch sehr fraglich, ob
man in Berlin den Wunsch und ob man die Kraft haben wird, die Vertretung
eines deutschen Reiches an Stelle der preußischen Landesvertretung zu setzen.
Und grade vor dieser Cardinalsrage unserer Zukunft wird uns am meisten fühl¬
bar, daß wir in einem Jntenmisticum leben, dessen glückliche Bewältigung wir
hoffen, zur Zeit nicht absehen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/478>, abgerufen am 04.07.2024.