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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Die gefälschten Inschriften von Nennig.

Ihre grünen Hefte, lieber Freund, begleiten nun schon eine gute Weile die
Geschicke unsrer Nation mit Liebe und Treue im Großen und im Kleinen, die
ernsten Wechselfälle, die den kommenden Geschlechtern vielleicht noch ernster er¬
scheinen werden als uns, die wir sie erleben, und die Launen und Gaben des
Tages, von denen wir selbst im nächsten Jahr kaum noch etwas wissen und die
unsere Kinder vielleicht einmal wieder kennen lernen, wenn künftige "Bilder
aus der Vergangenheit" sie auch in diesem Kleinen und oft Gemeinen das
Große und das Allgemeine sollten kennen lehren. Mit einer solchen ephe-
meren Curiosität komme ich Ihnen heute. Es wird Ihnen recht, sein, wenn
ich in beliebter Kürze über einen der seltenen Fälle berichte, wo römische
Inschriften das Interesse des größeren Publikums auf sich gezogen haben.
Sie wissen, im Allgemeinen erheben sie diesen Anspruch verständigerweise
nicht. Sie haben nicht, wie ihre hieroglyphischen und Keilschwestern, den
Zauber der UnVerständlichkeit für sich und der Dilettant fühlt sich sofort
abgeschreckt, theils durch die Gemeinverständlichkeit ihres Inhalts, der für das
Hineinlegen der eigenen Phantasien doch gar zu wenig Raum bietet, theils
durch das schwer niederzukämpfende Gefühl, daß eine gewisse Kenntniß der
lateinischen Declinationen in diesem Falle wünschenswert!) ist -- mit den
Conjugationen, wissen Sie, nehmen wir es selbst nicht so genau und ich könnte
Ihnen mehre Coliegennamen ins Ohr flüstern, die sich hinsichtlich der verba
irregularia hauptsächlich darauf verlassen, daß diese auf Steinen nicht oft vor¬
kommen. So warten wir denn unsres Amtes in den Trümmern der classischen
Friedhöfe in aller Stille; und wie denn der Gelehrte boshaft wird, wenn sich
niemand um ihn kümmert, ist der lateinische Epigraphiker wohl schlecht genug,
sich daran zu ergötzen, daß, wo einmal eine wirklich interessante und wirklich
gefühlvolle Inschrift dem Publikum durch Bädeker oder sonst zur Kenntniß ge¬
bracht und dankbar von ihm genossen wird, sie in der lliegel falsch ist. Sie
besinnen sich auf Byrons Stanze:

ihr Herz aber ihrem Vater, dem von Tacitus genannten Julius Alpinus:


Die gefälschten Inschriften von Nennig.

Ihre grünen Hefte, lieber Freund, begleiten nun schon eine gute Weile die
Geschicke unsrer Nation mit Liebe und Treue im Großen und im Kleinen, die
ernsten Wechselfälle, die den kommenden Geschlechtern vielleicht noch ernster er¬
scheinen werden als uns, die wir sie erleben, und die Launen und Gaben des
Tages, von denen wir selbst im nächsten Jahr kaum noch etwas wissen und die
unsere Kinder vielleicht einmal wieder kennen lernen, wenn künftige „Bilder
aus der Vergangenheit" sie auch in diesem Kleinen und oft Gemeinen das
Große und das Allgemeine sollten kennen lehren. Mit einer solchen ephe-
meren Curiosität komme ich Ihnen heute. Es wird Ihnen recht, sein, wenn
ich in beliebter Kürze über einen der seltenen Fälle berichte, wo römische
Inschriften das Interesse des größeren Publikums auf sich gezogen haben.
Sie wissen, im Allgemeinen erheben sie diesen Anspruch verständigerweise
nicht. Sie haben nicht, wie ihre hieroglyphischen und Keilschwestern, den
Zauber der UnVerständlichkeit für sich und der Dilettant fühlt sich sofort
abgeschreckt, theils durch die Gemeinverständlichkeit ihres Inhalts, der für das
Hineinlegen der eigenen Phantasien doch gar zu wenig Raum bietet, theils
durch das schwer niederzukämpfende Gefühl, daß eine gewisse Kenntniß der
lateinischen Declinationen in diesem Falle wünschenswert!) ist — mit den
Conjugationen, wissen Sie, nehmen wir es selbst nicht so genau und ich könnte
Ihnen mehre Coliegennamen ins Ohr flüstern, die sich hinsichtlich der verba
irregularia hauptsächlich darauf verlassen, daß diese auf Steinen nicht oft vor¬
kommen. So warten wir denn unsres Amtes in den Trümmern der classischen
Friedhöfe in aller Stille; und wie denn der Gelehrte boshaft wird, wenn sich
niemand um ihn kümmert, ist der lateinische Epigraphiker wohl schlecht genug,
sich daran zu ergötzen, daß, wo einmal eine wirklich interessante und wirklich
gefühlvolle Inschrift dem Publikum durch Bädeker oder sonst zur Kenntniß ge¬
bracht und dankbar von ihm genossen wird, sie in der lliegel falsch ist. Sie
besinnen sich auf Byrons Stanze:

ihr Herz aber ihrem Vater, dem von Tacitus genannten Julius Alpinus:


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[0437] Die gefälschten Inschriften von Nennig. Ihre grünen Hefte, lieber Freund, begleiten nun schon eine gute Weile die Geschicke unsrer Nation mit Liebe und Treue im Großen und im Kleinen, die ernsten Wechselfälle, die den kommenden Geschlechtern vielleicht noch ernster er¬ scheinen werden als uns, die wir sie erleben, und die Launen und Gaben des Tages, von denen wir selbst im nächsten Jahr kaum noch etwas wissen und die unsere Kinder vielleicht einmal wieder kennen lernen, wenn künftige „Bilder aus der Vergangenheit" sie auch in diesem Kleinen und oft Gemeinen das Große und das Allgemeine sollten kennen lehren. Mit einer solchen ephe- meren Curiosität komme ich Ihnen heute. Es wird Ihnen recht, sein, wenn ich in beliebter Kürze über einen der seltenen Fälle berichte, wo römische Inschriften das Interesse des größeren Publikums auf sich gezogen haben. Sie wissen, im Allgemeinen erheben sie diesen Anspruch verständigerweise nicht. Sie haben nicht, wie ihre hieroglyphischen und Keilschwestern, den Zauber der UnVerständlichkeit für sich und der Dilettant fühlt sich sofort abgeschreckt, theils durch die Gemeinverständlichkeit ihres Inhalts, der für das Hineinlegen der eigenen Phantasien doch gar zu wenig Raum bietet, theils durch das schwer niederzukämpfende Gefühl, daß eine gewisse Kenntniß der lateinischen Declinationen in diesem Falle wünschenswert!) ist — mit den Conjugationen, wissen Sie, nehmen wir es selbst nicht so genau und ich könnte Ihnen mehre Coliegennamen ins Ohr flüstern, die sich hinsichtlich der verba irregularia hauptsächlich darauf verlassen, daß diese auf Steinen nicht oft vor¬ kommen. So warten wir denn unsres Amtes in den Trümmern der classischen Friedhöfe in aller Stille; und wie denn der Gelehrte boshaft wird, wenn sich niemand um ihn kümmert, ist der lateinische Epigraphiker wohl schlecht genug, sich daran zu ergötzen, daß, wo einmal eine wirklich interessante und wirklich gefühlvolle Inschrift dem Publikum durch Bädeker oder sonst zur Kenntniß ge¬ bracht und dankbar von ihm genossen wird, sie in der lliegel falsch ist. Sie besinnen sich auf Byrons Stanze: ihr Herz aber ihrem Vater, dem von Tacitus genannten Julius Alpinus:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/437>, abgerufen am 04.07.2024.