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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Bestand und die Lebenskraft des jungen Königreichs auf die Probe stellt. Es
ist wahr, die Consolidirung des Reichs ist nicht möglich, ohne das feindliche
Stück Mittelalter zu beseitigen, das noch in der Mitte der Halbinsel als ein
Pfahl im Fleische sitzt. Aber mit jedem Zuwachs von Gebiet häufen sich zu¬
gleich die Schwierigkeiten der politischen Verschmelzung, häufen sich die finan¬
ziellen Opfer. Die Ereignisse dieses Sommers haben Mängel in allen Zweigen
der Verwaltung aufgedeckt und zugleich die Finanzlage des Staats dermaßen
verschlimmert, daß ohne Aufschub alle Kräfte sich diesen inneren Aufgaben zu¬
wenden müßten; durch die verführerische Aussicht auf das Capitol wird das
allgemeine Interesse wie die ungetheilte Sorge der Regierung abermals von
ihnen abgelenkt. Allein es ist keine Wahl. Die Nähe des Termins der Räu¬
mung Roms erlaubt nicht andere günstigere Zeiten abzuwarten. Die römische
Frage ist da -- wenn auch vielleicht allen Betheiligten unwillkommen. Daß in den
Jubel über die Befreiung Venetiens das Zucken der Erwartung sich mischte, in
wenig Wochen den letzten Franzosen aus der ewigen Stadt abziehen zu sehen,
hat sie unaufschiebbar gemacht.

Ein seltsames Schauspiel bietet heute die römische Frage dem unbeteiligten
Zuschauer. Niemals ist wohl einer Katastrophe, die so unberechenbare Folgen
in ihrem Schoße birgt, mit solcher anscheinender Ruhe und Kaltblütigkeit ent¬
gegengesehen worden. Die Lamentationen der Bischöfe, bei geringeren Anlässen
in epidemischer Fülle strömend, bleiben vereinzelt, die öffentliche Discussion ist
gemäßigt, selbst in Italien halten die Geister an sich, am meisten Bewegung
ist unter den Schaaren der Reisenden, die nach Rom sich ergießen, um Zeugen
der weltgeschichtlichen Tage zu sein, es fehlte nur noch, daß man sich Sperr¬
sitze bestellte, um das Schauspiel des untersinkenden Papstthums mit Be¬
quemlichkeit zu betrachten. Wer die allgemeine Stille der Erwartung unter¬
bricht, redet in halblauten Andeutungen, die mehr Verlegenheit verrathen, als
bestimmten Plan. Niemand will vorlaut sein letztes Wort sprechen, die letzte
Karte aufdecken. Es ist als ob man allgemein ein Unvorhergesehenes erwarte,
einen vsus ex inaelunÄ, der so gefällig wäre die Verwickelung zu lösen. Ja
wir irren vielleicht nicht, wenn wir annehmen, daß weder Louis Napoleon, noch
der Papst, weder die Römer noch das Cabinet Victor Emanuels in diesem Augen¬
blick genau wissen, was denn nach dem verhängnißvollen Termin eigentlich geschehen
wird und soll. Jeder Mitspieler folgt argwöhnisch den Schritten der anderen
und hofft sie auf einem falschen Zug zu ertappen, um daraus Vortheil zu ziehen,
keiner handelt nach einem feststehenden Plan. Die römische Frage ist eine all¬
gemeine Verlegenheit geworden, und der Ausdruck dieser Verlegenheit war im
Grund schon der Septembervertrag.

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal Inhalt und Sinn dieses viel¬
berufenen Staatsacts.


Bestand und die Lebenskraft des jungen Königreichs auf die Probe stellt. Es
ist wahr, die Consolidirung des Reichs ist nicht möglich, ohne das feindliche
Stück Mittelalter zu beseitigen, das noch in der Mitte der Halbinsel als ein
Pfahl im Fleische sitzt. Aber mit jedem Zuwachs von Gebiet häufen sich zu¬
gleich die Schwierigkeiten der politischen Verschmelzung, häufen sich die finan¬
ziellen Opfer. Die Ereignisse dieses Sommers haben Mängel in allen Zweigen
der Verwaltung aufgedeckt und zugleich die Finanzlage des Staats dermaßen
verschlimmert, daß ohne Aufschub alle Kräfte sich diesen inneren Aufgaben zu¬
wenden müßten; durch die verführerische Aussicht auf das Capitol wird das
allgemeine Interesse wie die ungetheilte Sorge der Regierung abermals von
ihnen abgelenkt. Allein es ist keine Wahl. Die Nähe des Termins der Räu¬
mung Roms erlaubt nicht andere günstigere Zeiten abzuwarten. Die römische
Frage ist da — wenn auch vielleicht allen Betheiligten unwillkommen. Daß in den
Jubel über die Befreiung Venetiens das Zucken der Erwartung sich mischte, in
wenig Wochen den letzten Franzosen aus der ewigen Stadt abziehen zu sehen,
hat sie unaufschiebbar gemacht.

Ein seltsames Schauspiel bietet heute die römische Frage dem unbeteiligten
Zuschauer. Niemals ist wohl einer Katastrophe, die so unberechenbare Folgen
in ihrem Schoße birgt, mit solcher anscheinender Ruhe und Kaltblütigkeit ent¬
gegengesehen worden. Die Lamentationen der Bischöfe, bei geringeren Anlässen
in epidemischer Fülle strömend, bleiben vereinzelt, die öffentliche Discussion ist
gemäßigt, selbst in Italien halten die Geister an sich, am meisten Bewegung
ist unter den Schaaren der Reisenden, die nach Rom sich ergießen, um Zeugen
der weltgeschichtlichen Tage zu sein, es fehlte nur noch, daß man sich Sperr¬
sitze bestellte, um das Schauspiel des untersinkenden Papstthums mit Be¬
quemlichkeit zu betrachten. Wer die allgemeine Stille der Erwartung unter¬
bricht, redet in halblauten Andeutungen, die mehr Verlegenheit verrathen, als
bestimmten Plan. Niemand will vorlaut sein letztes Wort sprechen, die letzte
Karte aufdecken. Es ist als ob man allgemein ein Unvorhergesehenes erwarte,
einen vsus ex inaelunÄ, der so gefällig wäre die Verwickelung zu lösen. Ja
wir irren vielleicht nicht, wenn wir annehmen, daß weder Louis Napoleon, noch
der Papst, weder die Römer noch das Cabinet Victor Emanuels in diesem Augen¬
blick genau wissen, was denn nach dem verhängnißvollen Termin eigentlich geschehen
wird und soll. Jeder Mitspieler folgt argwöhnisch den Schritten der anderen
und hofft sie auf einem falschen Zug zu ertappen, um daraus Vortheil zu ziehen,
keiner handelt nach einem feststehenden Plan. Die römische Frage ist eine all¬
gemeine Verlegenheit geworden, und der Ausdruck dieser Verlegenheit war im
Grund schon der Septembervertrag.

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal Inhalt und Sinn dieses viel¬
berufenen Staatsacts.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/390>, abgerufen am 04.07.2024.