Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Ganzen die geschichtlichen Traditionen hinweggefegt. Abgesehen von der gro¬
ßen Vergangenheit der Städte Mainz und etwa Worms, wußten diese in der
That nur Unerquickliches zu berichten. Etwa zwei Drittel gehörte, jedoch ohne
Abrundung. zu Kurpfalz und Kurmainz, das Andere mehrern Dutzend Herren,
Fürsten. Grafen, Reichsrittern, vieles zwciherrig. alles aufs bunteste durchein¬
ander gewürfelt; große geschichtliche Erinnerung fehlt. Auch die an die na¬
poleonische Herrschaft, wenigstens die mit Anhänglichkeit und Wunsch der Rück¬
kehr verbundene, ist ein lange überwundener Standpunkt. Aber ebenso klar ist.
daß sich aus all dem der Humus für das Gedeihen einer besondern hessischen
Loyalität nicht hat entwickeln können. Der Staat ist zu klein, um ein selb¬
ständiges kräftiges Staatsbewußtsein in seinen Gliedern zu erzeugen, und so
findet sich leicht Empfänglichkeit für bedeutende von außen kommende Anregun¬
gen. Eine solche kommt aber von dem westlich angrenzenden Preußen. Creuz-
nach ist die nächste bedeutendere Stadt; noch mächtiger wirkt die Verbindung
auf dem Rhein und auf der an ihm hinziehenden Eisenbahn; insbesondere steht
die Grenzstadt Bingen unter dem unmittelbaren Einfluß dieser Umstände. Die
Landbevölkerung dieser reichen Provinz ist aufgeweckten Sinnes, fast städtisch,
Von naher geistiger Verwandtschaft mit den übrigen Rheinländern. Mit Rhein-
Preußen sind ohnedem sehr viele Institutionen (einzelne Theile des Rechts und
des Verfahrens) gemein.

Eine Sonderstellung nimmt dagegen Mainz ein. Es hatte zu viel Be¬
wußtsein seiner Geschichte und Bedeutung, um so ohne Weiteres in den Rang
einer hessischen Provinzialstadt zurückzutreten. Der richtige Mainzer sah mit
einer gewissen Verachtung auf die so viel kleinere Landeshauptstadt mit einer
so kleinen Vergangenheit. Sogar wenn er von der Römerzeit nichts gewußt
hätte, so predigten ihm -doch die üppigen Barockbauten der Kurfürsten von
einer noch nicht lange geschwundenen Zeit, wo Mainz selbst Residenz und Haupt¬
stadt war und sein Fürst der erste des si. römischen Reichs. -- etwas ganz
Andres als der damalige kleine Landgraf von Hessen-Darmstadt dort drüben in
seinem sandigen Ländchen. So hatte der Mainzer wenig Hessisches, wenn auch
die Schiffbrücke nach Castel ihm die Landesfarben täglich in bauschigen Flor
zeigte. Er war zunächst Mainzer, ebenso tüchtig in der Arbeit als flott beim
Plaisir, und die Politik hat ihm von jeher weniger Kopfbrechen gemacht als die
Frage, wie der nächste Carneval zu feiern sei. Freilich, als die größere Frage:
Preußen oder Oestreich? an ihn herantrat, hatte er -- wenn man die Frage
Persönlich und nicht sachlich nahm -- Vorstudien gemacht, wie kein Anderer.
Seit 1816 lag preußische und östreichische Garnison in Mainz, und es ist
kein Geheimniß, daß die Bevölkerung mit letzterer auf besserem Fuß stand, ja
daß zu ersterer zu Zeiten ein sehr entschiedenes Mißverhältniß erwachsen war.
Die Gründe im Einzelnen führen zu weit; es genüge, daß Hr. v. Schmerling


Ganzen die geschichtlichen Traditionen hinweggefegt. Abgesehen von der gro¬
ßen Vergangenheit der Städte Mainz und etwa Worms, wußten diese in der
That nur Unerquickliches zu berichten. Etwa zwei Drittel gehörte, jedoch ohne
Abrundung. zu Kurpfalz und Kurmainz, das Andere mehrern Dutzend Herren,
Fürsten. Grafen, Reichsrittern, vieles zwciherrig. alles aufs bunteste durchein¬
ander gewürfelt; große geschichtliche Erinnerung fehlt. Auch die an die na¬
poleonische Herrschaft, wenigstens die mit Anhänglichkeit und Wunsch der Rück¬
kehr verbundene, ist ein lange überwundener Standpunkt. Aber ebenso klar ist.
daß sich aus all dem der Humus für das Gedeihen einer besondern hessischen
Loyalität nicht hat entwickeln können. Der Staat ist zu klein, um ein selb¬
ständiges kräftiges Staatsbewußtsein in seinen Gliedern zu erzeugen, und so
findet sich leicht Empfänglichkeit für bedeutende von außen kommende Anregun¬
gen. Eine solche kommt aber von dem westlich angrenzenden Preußen. Creuz-
nach ist die nächste bedeutendere Stadt; noch mächtiger wirkt die Verbindung
auf dem Rhein und auf der an ihm hinziehenden Eisenbahn; insbesondere steht
die Grenzstadt Bingen unter dem unmittelbaren Einfluß dieser Umstände. Die
Landbevölkerung dieser reichen Provinz ist aufgeweckten Sinnes, fast städtisch,
Von naher geistiger Verwandtschaft mit den übrigen Rheinländern. Mit Rhein-
Preußen sind ohnedem sehr viele Institutionen (einzelne Theile des Rechts und
des Verfahrens) gemein.

Eine Sonderstellung nimmt dagegen Mainz ein. Es hatte zu viel Be¬
wußtsein seiner Geschichte und Bedeutung, um so ohne Weiteres in den Rang
einer hessischen Provinzialstadt zurückzutreten. Der richtige Mainzer sah mit
einer gewissen Verachtung auf die so viel kleinere Landeshauptstadt mit einer
so kleinen Vergangenheit. Sogar wenn er von der Römerzeit nichts gewußt
hätte, so predigten ihm -doch die üppigen Barockbauten der Kurfürsten von
einer noch nicht lange geschwundenen Zeit, wo Mainz selbst Residenz und Haupt¬
stadt war und sein Fürst der erste des si. römischen Reichs. — etwas ganz
Andres als der damalige kleine Landgraf von Hessen-Darmstadt dort drüben in
seinem sandigen Ländchen. So hatte der Mainzer wenig Hessisches, wenn auch
die Schiffbrücke nach Castel ihm die Landesfarben täglich in bauschigen Flor
zeigte. Er war zunächst Mainzer, ebenso tüchtig in der Arbeit als flott beim
Plaisir, und die Politik hat ihm von jeher weniger Kopfbrechen gemacht als die
Frage, wie der nächste Carneval zu feiern sei. Freilich, als die größere Frage:
Preußen oder Oestreich? an ihn herantrat, hatte er — wenn man die Frage
Persönlich und nicht sachlich nahm — Vorstudien gemacht, wie kein Anderer.
Seit 1816 lag preußische und östreichische Garnison in Mainz, und es ist
kein Geheimniß, daß die Bevölkerung mit letzterer auf besserem Fuß stand, ja
daß zu ersterer zu Zeiten ein sehr entschiedenes Mißverhältniß erwachsen war.
Die Gründe im Einzelnen führen zu weit; es genüge, daß Hr. v. Schmerling


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0333" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/286481"/>
          <p xml:id="ID_964" prev="#ID_963"> Ganzen die geschichtlichen Traditionen hinweggefegt. Abgesehen von der gro¬<lb/>
ßen Vergangenheit der Städte Mainz und etwa Worms, wußten diese in der<lb/>
That nur Unerquickliches zu berichten. Etwa zwei Drittel gehörte, jedoch ohne<lb/>
Abrundung. zu Kurpfalz und Kurmainz, das Andere mehrern Dutzend Herren,<lb/>
Fürsten. Grafen, Reichsrittern, vieles zwciherrig. alles aufs bunteste durchein¬<lb/>
ander gewürfelt; große geschichtliche Erinnerung fehlt. Auch die an die na¬<lb/>
poleonische Herrschaft, wenigstens die mit Anhänglichkeit und Wunsch der Rück¬<lb/>
kehr verbundene, ist ein lange überwundener Standpunkt. Aber ebenso klar ist.<lb/>
daß sich aus all dem der Humus für das Gedeihen einer besondern hessischen<lb/>
Loyalität nicht hat entwickeln können. Der Staat ist zu klein, um ein selb¬<lb/>
ständiges kräftiges Staatsbewußtsein in seinen Gliedern zu erzeugen, und so<lb/>
findet sich leicht Empfänglichkeit für bedeutende von außen kommende Anregun¬<lb/>
gen. Eine solche kommt aber von dem westlich angrenzenden Preußen. Creuz-<lb/>
nach ist die nächste bedeutendere Stadt; noch mächtiger wirkt die Verbindung<lb/>
auf dem Rhein und auf der an ihm hinziehenden Eisenbahn; insbesondere steht<lb/>
die Grenzstadt Bingen unter dem unmittelbaren Einfluß dieser Umstände. Die<lb/>
Landbevölkerung dieser reichen Provinz ist aufgeweckten Sinnes, fast städtisch,<lb/>
Von naher geistiger Verwandtschaft mit den übrigen Rheinländern. Mit Rhein-<lb/>
Preußen sind ohnedem sehr viele Institutionen (einzelne Theile des Rechts und<lb/>
des Verfahrens) gemein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_965" next="#ID_966"> Eine Sonderstellung nimmt dagegen Mainz ein. Es hatte zu viel Be¬<lb/>
wußtsein seiner Geschichte und Bedeutung, um so ohne Weiteres in den Rang<lb/>
einer hessischen Provinzialstadt zurückzutreten. Der richtige Mainzer sah mit<lb/>
einer gewissen Verachtung auf die so viel kleinere Landeshauptstadt mit einer<lb/>
so kleinen Vergangenheit. Sogar wenn er von der Römerzeit nichts gewußt<lb/>
hätte, so predigten ihm -doch die üppigen Barockbauten der Kurfürsten von<lb/>
einer noch nicht lange geschwundenen Zeit, wo Mainz selbst Residenz und Haupt¬<lb/>
stadt war und sein Fürst der erste des si. römischen Reichs. &#x2014; etwas ganz<lb/>
Andres als der damalige kleine Landgraf von Hessen-Darmstadt dort drüben in<lb/>
seinem sandigen Ländchen. So hatte der Mainzer wenig Hessisches, wenn auch<lb/>
die Schiffbrücke nach Castel ihm die Landesfarben täglich in bauschigen Flor<lb/>
zeigte. Er war zunächst Mainzer, ebenso tüchtig in der Arbeit als flott beim<lb/>
Plaisir, und die Politik hat ihm von jeher weniger Kopfbrechen gemacht als die<lb/>
Frage, wie der nächste Carneval zu feiern sei. Freilich, als die größere Frage:<lb/>
Preußen oder Oestreich? an ihn herantrat, hatte er &#x2014; wenn man die Frage<lb/>
Persönlich und nicht sachlich nahm &#x2014; Vorstudien gemacht, wie kein Anderer.<lb/>
Seit 1816 lag preußische und östreichische Garnison in Mainz, und es ist<lb/>
kein Geheimniß, daß die Bevölkerung mit letzterer auf besserem Fuß stand, ja<lb/>
daß zu ersterer zu Zeiten ein sehr entschiedenes Mißverhältniß erwachsen war.<lb/>
Die Gründe im Einzelnen führen zu weit; es genüge, daß Hr. v. Schmerling</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0333] Ganzen die geschichtlichen Traditionen hinweggefegt. Abgesehen von der gro¬ ßen Vergangenheit der Städte Mainz und etwa Worms, wußten diese in der That nur Unerquickliches zu berichten. Etwa zwei Drittel gehörte, jedoch ohne Abrundung. zu Kurpfalz und Kurmainz, das Andere mehrern Dutzend Herren, Fürsten. Grafen, Reichsrittern, vieles zwciherrig. alles aufs bunteste durchein¬ ander gewürfelt; große geschichtliche Erinnerung fehlt. Auch die an die na¬ poleonische Herrschaft, wenigstens die mit Anhänglichkeit und Wunsch der Rück¬ kehr verbundene, ist ein lange überwundener Standpunkt. Aber ebenso klar ist. daß sich aus all dem der Humus für das Gedeihen einer besondern hessischen Loyalität nicht hat entwickeln können. Der Staat ist zu klein, um ein selb¬ ständiges kräftiges Staatsbewußtsein in seinen Gliedern zu erzeugen, und so findet sich leicht Empfänglichkeit für bedeutende von außen kommende Anregun¬ gen. Eine solche kommt aber von dem westlich angrenzenden Preußen. Creuz- nach ist die nächste bedeutendere Stadt; noch mächtiger wirkt die Verbindung auf dem Rhein und auf der an ihm hinziehenden Eisenbahn; insbesondere steht die Grenzstadt Bingen unter dem unmittelbaren Einfluß dieser Umstände. Die Landbevölkerung dieser reichen Provinz ist aufgeweckten Sinnes, fast städtisch, Von naher geistiger Verwandtschaft mit den übrigen Rheinländern. Mit Rhein- Preußen sind ohnedem sehr viele Institutionen (einzelne Theile des Rechts und des Verfahrens) gemein. Eine Sonderstellung nimmt dagegen Mainz ein. Es hatte zu viel Be¬ wußtsein seiner Geschichte und Bedeutung, um so ohne Weiteres in den Rang einer hessischen Provinzialstadt zurückzutreten. Der richtige Mainzer sah mit einer gewissen Verachtung auf die so viel kleinere Landeshauptstadt mit einer so kleinen Vergangenheit. Sogar wenn er von der Römerzeit nichts gewußt hätte, so predigten ihm -doch die üppigen Barockbauten der Kurfürsten von einer noch nicht lange geschwundenen Zeit, wo Mainz selbst Residenz und Haupt¬ stadt war und sein Fürst der erste des si. römischen Reichs. — etwas ganz Andres als der damalige kleine Landgraf von Hessen-Darmstadt dort drüben in seinem sandigen Ländchen. So hatte der Mainzer wenig Hessisches, wenn auch die Schiffbrücke nach Castel ihm die Landesfarben täglich in bauschigen Flor zeigte. Er war zunächst Mainzer, ebenso tüchtig in der Arbeit als flott beim Plaisir, und die Politik hat ihm von jeher weniger Kopfbrechen gemacht als die Frage, wie der nächste Carneval zu feiern sei. Freilich, als die größere Frage: Preußen oder Oestreich? an ihn herantrat, hatte er — wenn man die Frage Persönlich und nicht sachlich nahm — Vorstudien gemacht, wie kein Anderer. Seit 1816 lag preußische und östreichische Garnison in Mainz, und es ist kein Geheimniß, daß die Bevölkerung mit letzterer auf besserem Fuß stand, ja daß zu ersterer zu Zeiten ein sehr entschiedenes Mißverhältniß erwachsen war. Die Gründe im Einzelnen führen zu weit; es genüge, daß Hr. v. Schmerling

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/333
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/333>, abgerufen am 04.07.2024.