Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Hänger zählte sie freilich in allen Kreisen der Gesellschaft, ganz besonders unter
der Jugend der Petersburger Militärlehranstalten und in den Studentenkreisen
Moskaus.

So blieb es bis gegen das Ende der vorigen Regierung. Der unglück¬
liche Ausgang des orientalischen Krieges, in welchem das alte System einen
Bankerott gemacht hatte, den selbst die officielle Welt nicht läugnen konnte, und
die Thronbesteigung Alexanders des Zweiten brachten aber in der Mitte des
vorigen Jahrzehnts einen plötzlichen Umschwung des russischen Lebens zu Wege,
wie er in der Weltgeschichte kaum dagewesen ist. Kaum daß der Kaiser das
erste Wort von der Nothwendigkeit einer Reform und der Aufhebung der Leib¬
eigenschaft gesprochen hatte, als der lang verhaltene Unwille gegen die gesammte
alte Ordnung der Dinge mit einer Wucht und Leidenschaftlichkeit hervorbrach, die
alles, auch die Regierung mit sich fortriß. "Reform aus allen Lcbensgebieten"
war das Losungswort, das von der Newa bis an die Ufer der Wolga und des
schwarzen Meeres schallte und von Millionen jubelnd wiederholt wurde. Ueber
Nacht war der Geist der Gesellschaft vollständig verändert. Während der Wille
der Negierung bis dahin allein maßgebend, jede Einmischung in ihre Pläne
und Zwecke streng verpönt gewesen war, niemand andere als rein egoistische
Absichten verfolgt hatte, wollte sich jetzt alles an den öffentlichen Angelegen¬
heiten, an der Sache der Emancipation der Leibeigenen, der Volksbildung, der
Umgestaltung der Justiz und der Verwaltung betheiligen. Man glaubte sich am
Eingang einer neuen goldenen Zeit und schwelgte im Vorgefühl der Herrlichkeiten
des neuen freien Rußland,-- ein Taumel der Begeisterung, dem sich niemand ent¬
ziehen konnte, ergriff alle Classen des Volks und im Nu waren die Fesseln gesprengt,
an welche man sonst kaum zu rühren gewagt hatte. Binnen wenigen Monaten ent¬
stand eine Presse, die Hunderte von Journalen aller Farben und Richtungen, aller
Formen und Gattungen zählte, -- wer irgend zu schreiben gelernt hatte, ergriff die
Feder und wurde Publicist, die Leute der alten Schule, die keinen andern als
den Uetersen kannten, bewarben sich in Masse um die Censorposten, um wenig¬
stens als liberale Wächter der Presse den Interessen dieser und der jungen Frei¬
heit dienen zu können. Während die russischen Zeitungen bis dahin ohne alle
Bedeutung gewesen waren, blos die officiellen Journale politische Artikel ge¬
bracht hatten und das literarische Leben auf Theaterrecensionen und kritische
Fehden zwischen ästhetischen Stümpern beschränkt gewesen war, gab es schon
im Jahre 18S8 kein Journal mehr, das nicht die Arena der Politik beschritten
und alle Gebiete des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens einer rücksichtslosen
Kritik unterzogen hätte. Das alte System war von der Regierung so voll¬
ständig preisgegeben, daß niemand eine Vertheidigung desselben wagte. Anklagen
gegen das Bestehende, gegen Personen und Zustände, die noch zwei Jahre früher
für unantastbar gegolten hatten, regneten von allen Ecken und Enden und auf


Hänger zählte sie freilich in allen Kreisen der Gesellschaft, ganz besonders unter
der Jugend der Petersburger Militärlehranstalten und in den Studentenkreisen
Moskaus.

So blieb es bis gegen das Ende der vorigen Regierung. Der unglück¬
liche Ausgang des orientalischen Krieges, in welchem das alte System einen
Bankerott gemacht hatte, den selbst die officielle Welt nicht läugnen konnte, und
die Thronbesteigung Alexanders des Zweiten brachten aber in der Mitte des
vorigen Jahrzehnts einen plötzlichen Umschwung des russischen Lebens zu Wege,
wie er in der Weltgeschichte kaum dagewesen ist. Kaum daß der Kaiser das
erste Wort von der Nothwendigkeit einer Reform und der Aufhebung der Leib¬
eigenschaft gesprochen hatte, als der lang verhaltene Unwille gegen die gesammte
alte Ordnung der Dinge mit einer Wucht und Leidenschaftlichkeit hervorbrach, die
alles, auch die Regierung mit sich fortriß. „Reform aus allen Lcbensgebieten"
war das Losungswort, das von der Newa bis an die Ufer der Wolga und des
schwarzen Meeres schallte und von Millionen jubelnd wiederholt wurde. Ueber
Nacht war der Geist der Gesellschaft vollständig verändert. Während der Wille
der Negierung bis dahin allein maßgebend, jede Einmischung in ihre Pläne
und Zwecke streng verpönt gewesen war, niemand andere als rein egoistische
Absichten verfolgt hatte, wollte sich jetzt alles an den öffentlichen Angelegen¬
heiten, an der Sache der Emancipation der Leibeigenen, der Volksbildung, der
Umgestaltung der Justiz und der Verwaltung betheiligen. Man glaubte sich am
Eingang einer neuen goldenen Zeit und schwelgte im Vorgefühl der Herrlichkeiten
des neuen freien Rußland,— ein Taumel der Begeisterung, dem sich niemand ent¬
ziehen konnte, ergriff alle Classen des Volks und im Nu waren die Fesseln gesprengt,
an welche man sonst kaum zu rühren gewagt hatte. Binnen wenigen Monaten ent¬
stand eine Presse, die Hunderte von Journalen aller Farben und Richtungen, aller
Formen und Gattungen zählte, — wer irgend zu schreiben gelernt hatte, ergriff die
Feder und wurde Publicist, die Leute der alten Schule, die keinen andern als
den Uetersen kannten, bewarben sich in Masse um die Censorposten, um wenig¬
stens als liberale Wächter der Presse den Interessen dieser und der jungen Frei¬
heit dienen zu können. Während die russischen Zeitungen bis dahin ohne alle
Bedeutung gewesen waren, blos die officiellen Journale politische Artikel ge¬
bracht hatten und das literarische Leben auf Theaterrecensionen und kritische
Fehden zwischen ästhetischen Stümpern beschränkt gewesen war, gab es schon
im Jahre 18S8 kein Journal mehr, das nicht die Arena der Politik beschritten
und alle Gebiete des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens einer rücksichtslosen
Kritik unterzogen hätte. Das alte System war von der Regierung so voll¬
ständig preisgegeben, daß niemand eine Vertheidigung desselben wagte. Anklagen
gegen das Bestehende, gegen Personen und Zustände, die noch zwei Jahre früher
für unantastbar gegolten hatten, regneten von allen Ecken und Enden und auf


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0311" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/286459"/>
          <p xml:id="ID_901" prev="#ID_900"> Hänger zählte sie freilich in allen Kreisen der Gesellschaft, ganz besonders unter<lb/>
der Jugend der Petersburger Militärlehranstalten und in den Studentenkreisen<lb/>
Moskaus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_902" next="#ID_903"> So blieb es bis gegen das Ende der vorigen Regierung. Der unglück¬<lb/>
liche Ausgang des orientalischen Krieges, in welchem das alte System einen<lb/>
Bankerott gemacht hatte, den selbst die officielle Welt nicht läugnen konnte, und<lb/>
die Thronbesteigung Alexanders des Zweiten brachten aber in der Mitte des<lb/>
vorigen Jahrzehnts einen plötzlichen Umschwung des russischen Lebens zu Wege,<lb/>
wie er in der Weltgeschichte kaum dagewesen ist. Kaum daß der Kaiser das<lb/>
erste Wort von der Nothwendigkeit einer Reform und der Aufhebung der Leib¬<lb/>
eigenschaft gesprochen hatte, als der lang verhaltene Unwille gegen die gesammte<lb/>
alte Ordnung der Dinge mit einer Wucht und Leidenschaftlichkeit hervorbrach, die<lb/>
alles, auch die Regierung mit sich fortriß. &#x201E;Reform aus allen Lcbensgebieten"<lb/>
war das Losungswort, das von der Newa bis an die Ufer der Wolga und des<lb/>
schwarzen Meeres schallte und von Millionen jubelnd wiederholt wurde. Ueber<lb/>
Nacht war der Geist der Gesellschaft vollständig verändert. Während der Wille<lb/>
der Negierung bis dahin allein maßgebend, jede Einmischung in ihre Pläne<lb/>
und Zwecke streng verpönt gewesen war, niemand andere als rein egoistische<lb/>
Absichten verfolgt hatte, wollte sich jetzt alles an den öffentlichen Angelegen¬<lb/>
heiten, an der Sache der Emancipation der Leibeigenen, der Volksbildung, der<lb/>
Umgestaltung der Justiz und der Verwaltung betheiligen. Man glaubte sich am<lb/>
Eingang einer neuen goldenen Zeit und schwelgte im Vorgefühl der Herrlichkeiten<lb/>
des neuen freien Rußland,&#x2014; ein Taumel der Begeisterung, dem sich niemand ent¬<lb/>
ziehen konnte, ergriff alle Classen des Volks und im Nu waren die Fesseln gesprengt,<lb/>
an welche man sonst kaum zu rühren gewagt hatte. Binnen wenigen Monaten ent¬<lb/>
stand eine Presse, die Hunderte von Journalen aller Farben und Richtungen, aller<lb/>
Formen und Gattungen zählte, &#x2014; wer irgend zu schreiben gelernt hatte, ergriff die<lb/>
Feder und wurde Publicist, die Leute der alten Schule, die keinen andern als<lb/>
den Uetersen kannten, bewarben sich in Masse um die Censorposten, um wenig¬<lb/>
stens als liberale Wächter der Presse den Interessen dieser und der jungen Frei¬<lb/>
heit dienen zu können. Während die russischen Zeitungen bis dahin ohne alle<lb/>
Bedeutung gewesen waren, blos die officiellen Journale politische Artikel ge¬<lb/>
bracht hatten und das literarische Leben auf Theaterrecensionen und kritische<lb/>
Fehden zwischen ästhetischen Stümpern beschränkt gewesen war, gab es schon<lb/>
im Jahre 18S8 kein Journal mehr, das nicht die Arena der Politik beschritten<lb/>
und alle Gebiete des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens einer rücksichtslosen<lb/>
Kritik unterzogen hätte. Das alte System war von der Regierung so voll¬<lb/>
ständig preisgegeben, daß niemand eine Vertheidigung desselben wagte. Anklagen<lb/>
gegen das Bestehende, gegen Personen und Zustände, die noch zwei Jahre früher<lb/>
für unantastbar gegolten hatten, regneten von allen Ecken und Enden und auf</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0311] Hänger zählte sie freilich in allen Kreisen der Gesellschaft, ganz besonders unter der Jugend der Petersburger Militärlehranstalten und in den Studentenkreisen Moskaus. So blieb es bis gegen das Ende der vorigen Regierung. Der unglück¬ liche Ausgang des orientalischen Krieges, in welchem das alte System einen Bankerott gemacht hatte, den selbst die officielle Welt nicht läugnen konnte, und die Thronbesteigung Alexanders des Zweiten brachten aber in der Mitte des vorigen Jahrzehnts einen plötzlichen Umschwung des russischen Lebens zu Wege, wie er in der Weltgeschichte kaum dagewesen ist. Kaum daß der Kaiser das erste Wort von der Nothwendigkeit einer Reform und der Aufhebung der Leib¬ eigenschaft gesprochen hatte, als der lang verhaltene Unwille gegen die gesammte alte Ordnung der Dinge mit einer Wucht und Leidenschaftlichkeit hervorbrach, die alles, auch die Regierung mit sich fortriß. „Reform aus allen Lcbensgebieten" war das Losungswort, das von der Newa bis an die Ufer der Wolga und des schwarzen Meeres schallte und von Millionen jubelnd wiederholt wurde. Ueber Nacht war der Geist der Gesellschaft vollständig verändert. Während der Wille der Negierung bis dahin allein maßgebend, jede Einmischung in ihre Pläne und Zwecke streng verpönt gewesen war, niemand andere als rein egoistische Absichten verfolgt hatte, wollte sich jetzt alles an den öffentlichen Angelegen¬ heiten, an der Sache der Emancipation der Leibeigenen, der Volksbildung, der Umgestaltung der Justiz und der Verwaltung betheiligen. Man glaubte sich am Eingang einer neuen goldenen Zeit und schwelgte im Vorgefühl der Herrlichkeiten des neuen freien Rußland,— ein Taumel der Begeisterung, dem sich niemand ent¬ ziehen konnte, ergriff alle Classen des Volks und im Nu waren die Fesseln gesprengt, an welche man sonst kaum zu rühren gewagt hatte. Binnen wenigen Monaten ent¬ stand eine Presse, die Hunderte von Journalen aller Farben und Richtungen, aller Formen und Gattungen zählte, — wer irgend zu schreiben gelernt hatte, ergriff die Feder und wurde Publicist, die Leute der alten Schule, die keinen andern als den Uetersen kannten, bewarben sich in Masse um die Censorposten, um wenig¬ stens als liberale Wächter der Presse den Interessen dieser und der jungen Frei¬ heit dienen zu können. Während die russischen Zeitungen bis dahin ohne alle Bedeutung gewesen waren, blos die officiellen Journale politische Artikel ge¬ bracht hatten und das literarische Leben auf Theaterrecensionen und kritische Fehden zwischen ästhetischen Stümpern beschränkt gewesen war, gab es schon im Jahre 18S8 kein Journal mehr, das nicht die Arena der Politik beschritten und alle Gebiete des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens einer rücksichtslosen Kritik unterzogen hätte. Das alte System war von der Regierung so voll¬ ständig preisgegeben, daß niemand eine Vertheidigung desselben wagte. Anklagen gegen das Bestehende, gegen Personen und Zustände, die noch zwei Jahre früher für unantastbar gegolten hatten, regneten von allen Ecken und Enden und auf

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/311
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/311>, abgerufen am 04.07.2024.