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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Potenzen als verkehrt verurtheilt. Ihre Aufhebung erfolgte nicht, weil die Re¬
gierung bei ihren konservativen Verfassungsänderungen unter anderen auch die
Zünfte und ihre Gunst zu conserviren für dienlich hielt. Der Rückkehr zur
Gewerbeordnung von 1847 redet unser Gewährsmann das Wort nicht, obgleich
sie sein Werk ist; aber er will auch die preußische Gewerbeordnung nicht ohne
erhebliche Einwände gut heißen. Den Grundsatz der Gewerbefreiheit, den wir
Stein verdanken, fordert er nicht nur als Ausgangspunkt, sondern er will noch
cousequenter damit Ernst gemacht sehen, als es in Preußen thatsächlich und rechtlich
geschieht. Den meisten Anstoß giebt hier das Gesetz vom 9. Februar 1849, das den
Handwerkern in Preußen selbständige" Gewerbebetrieb nur unter der Bedingung
gestattet, daß sie nach beigebrachten Qualificationsbeweis durch Examen vor
einer Prüfungscommission in die Innung aufgenommen worden sind. Dies
setzt voraus, daß der Handwerker als Lehrling die Gesellenprüfung bestanden,
und dies wieder, daß drei J.ihre seit Entlassung aus der Lehre verstrichen sind.
"Deutschland" -- sagt Herr Bening -- "ist freilich das Land der Prüfungen,
und Zünfte mögen, wo sie noch bestehen, auch prüfen. Daß aber jeder Schuster,
Schneider oder Bürstenbinder, auch wenn er nicht zünftig werden will, auf
bureauttatischem Wege sich prüfen lassen soll, ist selbst für Deutschland zu viel.
Prüfungen rechtfertigen sich nur für Gewerbsbetriebe, bei welchen Unkunde eine
gemeine Gefahr herbeiführen kann, besonders bei Bauhandwerker." Behcr-
zigcnswcrthe Grundsätze für Revision der Gewerbegcsctzgebung enthält trotz der
Mängel in der Ausführung die diesjährige hannoverische Regierungsvorlage.
Sie verlangt Freiheit der Gewerbe und Freiheit für die Zünfte, frei -- ohne
Zunfizwang -- zu leben oder unterzugehn. Auch in Preußen vollzieht sich
diese Wendung, die Zünfte erstehen als freie Genossenschaften; erweisen sie sich
in dieser Gestalt nicht lebensfähig, so werden sie von selber sterben; das Gesetz
braucht sie dann nicht noch zu tödten.

Sehr schwierig wird die gesetzliche Regulirung der bäuerlichen Ver¬
hältnisse sein; denn hier besteht zwischen Preußen, wo Stein schon 1807
den Grundsatz der Freiheit und Theilbarkeit der Höfe ausgesprochen und dann
zur Norm erhoben hat, und Hannover, das mit Ausnahme seiner früher preu¬
ßischen Länder die Unthcilbarkeit festhält, eine große Kluft. Der hannoversche
Bauernstand widerstrebt der Einführung des preußischen Rechts über die Höfe.
An sich wird das hannoverische Recht über Bauerhöfe durch die Annexion
nicht alterirt; aber da die in mancher Beziehung mangelhafte gesetzliche Fixi-
rung sehr Vonnöthen ist, so ist zu wünschen, daß es mit einer für Hannover
zu errichtenden - Vertretung vereinbart werde. Denn nur dadurch kann die
Gewähr voller Beachtung der heimischen Bedürfnisse bei diesem hochwichtigen
Gegenstande gegeben werden. Sehr tiefgreifende Aenderungen, die namentlich
hier leicht Mißdeutung und Mißtrauen erwecken, widerräth unsere Schrift. Sie


Potenzen als verkehrt verurtheilt. Ihre Aufhebung erfolgte nicht, weil die Re¬
gierung bei ihren konservativen Verfassungsänderungen unter anderen auch die
Zünfte und ihre Gunst zu conserviren für dienlich hielt. Der Rückkehr zur
Gewerbeordnung von 1847 redet unser Gewährsmann das Wort nicht, obgleich
sie sein Werk ist; aber er will auch die preußische Gewerbeordnung nicht ohne
erhebliche Einwände gut heißen. Den Grundsatz der Gewerbefreiheit, den wir
Stein verdanken, fordert er nicht nur als Ausgangspunkt, sondern er will noch
cousequenter damit Ernst gemacht sehen, als es in Preußen thatsächlich und rechtlich
geschieht. Den meisten Anstoß giebt hier das Gesetz vom 9. Februar 1849, das den
Handwerkern in Preußen selbständige» Gewerbebetrieb nur unter der Bedingung
gestattet, daß sie nach beigebrachten Qualificationsbeweis durch Examen vor
einer Prüfungscommission in die Innung aufgenommen worden sind. Dies
setzt voraus, daß der Handwerker als Lehrling die Gesellenprüfung bestanden,
und dies wieder, daß drei J.ihre seit Entlassung aus der Lehre verstrichen sind.
„Deutschland" — sagt Herr Bening — „ist freilich das Land der Prüfungen,
und Zünfte mögen, wo sie noch bestehen, auch prüfen. Daß aber jeder Schuster,
Schneider oder Bürstenbinder, auch wenn er nicht zünftig werden will, auf
bureauttatischem Wege sich prüfen lassen soll, ist selbst für Deutschland zu viel.
Prüfungen rechtfertigen sich nur für Gewerbsbetriebe, bei welchen Unkunde eine
gemeine Gefahr herbeiführen kann, besonders bei Bauhandwerker." Behcr-
zigcnswcrthe Grundsätze für Revision der Gewerbegcsctzgebung enthält trotz der
Mängel in der Ausführung die diesjährige hannoverische Regierungsvorlage.
Sie verlangt Freiheit der Gewerbe und Freiheit für die Zünfte, frei — ohne
Zunfizwang — zu leben oder unterzugehn. Auch in Preußen vollzieht sich
diese Wendung, die Zünfte erstehen als freie Genossenschaften; erweisen sie sich
in dieser Gestalt nicht lebensfähig, so werden sie von selber sterben; das Gesetz
braucht sie dann nicht noch zu tödten.

Sehr schwierig wird die gesetzliche Regulirung der bäuerlichen Ver¬
hältnisse sein; denn hier besteht zwischen Preußen, wo Stein schon 1807
den Grundsatz der Freiheit und Theilbarkeit der Höfe ausgesprochen und dann
zur Norm erhoben hat, und Hannover, das mit Ausnahme seiner früher preu¬
ßischen Länder die Unthcilbarkeit festhält, eine große Kluft. Der hannoversche
Bauernstand widerstrebt der Einführung des preußischen Rechts über die Höfe.
An sich wird das hannoverische Recht über Bauerhöfe durch die Annexion
nicht alterirt; aber da die in mancher Beziehung mangelhafte gesetzliche Fixi-
rung sehr Vonnöthen ist, so ist zu wünschen, daß es mit einer für Hannover
zu errichtenden - Vertretung vereinbart werde. Denn nur dadurch kann die
Gewähr voller Beachtung der heimischen Bedürfnisse bei diesem hochwichtigen
Gegenstande gegeben werden. Sehr tiefgreifende Aenderungen, die namentlich
hier leicht Mißdeutung und Mißtrauen erwecken, widerräth unsere Schrift. Sie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/300>, abgerufen am 04.07.2024.