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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Gegenwart des Königs auszufechtender Ehrenhandel von zwei großen Baronen
grade für dieses Publikum haben mühte. Wenn die Freunde des Dichters, die
hohen Beschützer seiner Bühne ihren Platz unmittelbar auf dem Bühnenraum
hatten und man sich täglich fast körperlich berührte, wenn so der wichtigste Theil
des Publikums eine unter sich zusammenhängende und dem Bühnenpersonal
persönlich befreundete Coterie bildete, so war der Anlaß so nahe und die Aus¬
führung so leicht, sich unter allen möglichen Gestalten, in Scherz und Ernst,
dem größeren Publikum unbemerkt, zu unterhalten."

Wir brauchen wacht kaum daran zu erinnern, daß Richards -despotische
Brutalität, die sich in der plötzlichen Aufhebung des Turnieres und in der
damit verbundenen Verbannung Herefords kundgiebt, grade die tragische Schuld
ist. an der er vor Miseren Ana.er zu Grunde geht, daß also der Bau des
ganzen Stückes auf diesem ersten Acte beruht und ohne ihn nicht bestehen
könnte.

Ferner meint Herr Rümelin: "Ein König, der so handele," wie Lear im
Anfang der Tragödie, "zeige so wenig Verstand, daß man sich über den bal¬
digen Verlust des Restchens kaum noch wundern könne." -- Daß Lears natür¬
liche Anlage zu dem Wahnsinn, den die Vorgänge der Tragödie folgerichtig an
ihm ausbilden, auch die Anlage der Tragödie ausmachen mußte, hat der wahr¬
haft realistische Vortrag des Irrenarztes Professor Dr. Heinrich Neumann ("Lear
und Ophelia. Breslau 1866") treffend nachgewiesen. -- In seinem Urtheil über
"Maß für Maß" verlangt Herr Rümelin nichts Geringeres, als daß die darin
handelnden Personen das Gesetz der Todesstrafe für außerehelichen Liebesgenuß
ebenso "unsinnig und undenkbar" finden sollen, wie der Realist d. h. daß die Ge¬
schöpfe des Gedichtes den Dichter blamiren sollen. Ich erinnere daran, daß
der Stoff dieses Dramas gar nicht Shakespeares Erfindung, sondern von dem
späteren Puritaner Whetstone ist.

Bei Romeo und Julia erklärt Rümelin, "daß wenn Romeo, Julia, der
Pater Lorenzo und die Andern ruhige, besonnene, mit vernünftiger Ueberlegung
verfahrende Leute gewesen wären, gar kein Unglück hätte entstehen können." --
Sehr wahrscheinlich.

Für Desdemonas Geschmack wird bemerkt, ihre Liebe zum Venetianer von
maurischer Abkunft sei viel eher zu begreifen als "ihre Neigung über die kau¬
kasische Race hinaus für das Wollhaar und die dicken Wulstlippen des schwar¬
zen Scheusals." Es ist dies eine Ansicht, die das schwarze Scheusal selbst mit
Herrn Rümelin theilt und die bekanntlich ein Hauptmotiv für Othellos Eifer¬
sucht ist.

"Mit der Erklärung des Hamlet," sagt Rümelin, "wird man schwerlich je
zurecht kommen, wenn man nicht schon den ganzen Dichter kennt, wenn man
nicht weiß, welchen Hörerkreis er dabei im Auge hatte, um welche Wirkungen


Gegenwart des Königs auszufechtender Ehrenhandel von zwei großen Baronen
grade für dieses Publikum haben mühte. Wenn die Freunde des Dichters, die
hohen Beschützer seiner Bühne ihren Platz unmittelbar auf dem Bühnenraum
hatten und man sich täglich fast körperlich berührte, wenn so der wichtigste Theil
des Publikums eine unter sich zusammenhängende und dem Bühnenpersonal
persönlich befreundete Coterie bildete, so war der Anlaß so nahe und die Aus¬
führung so leicht, sich unter allen möglichen Gestalten, in Scherz und Ernst,
dem größeren Publikum unbemerkt, zu unterhalten."

Wir brauchen wacht kaum daran zu erinnern, daß Richards -despotische
Brutalität, die sich in der plötzlichen Aufhebung des Turnieres und in der
damit verbundenen Verbannung Herefords kundgiebt, grade die tragische Schuld
ist. an der er vor Miseren Ana.er zu Grunde geht, daß also der Bau des
ganzen Stückes auf diesem ersten Acte beruht und ohne ihn nicht bestehen
könnte.

Ferner meint Herr Rümelin: „Ein König, der so handele," wie Lear im
Anfang der Tragödie, „zeige so wenig Verstand, daß man sich über den bal¬
digen Verlust des Restchens kaum noch wundern könne." — Daß Lears natür¬
liche Anlage zu dem Wahnsinn, den die Vorgänge der Tragödie folgerichtig an
ihm ausbilden, auch die Anlage der Tragödie ausmachen mußte, hat der wahr¬
haft realistische Vortrag des Irrenarztes Professor Dr. Heinrich Neumann („Lear
und Ophelia. Breslau 1866") treffend nachgewiesen. — In seinem Urtheil über
„Maß für Maß" verlangt Herr Rümelin nichts Geringeres, als daß die darin
handelnden Personen das Gesetz der Todesstrafe für außerehelichen Liebesgenuß
ebenso „unsinnig und undenkbar" finden sollen, wie der Realist d. h. daß die Ge¬
schöpfe des Gedichtes den Dichter blamiren sollen. Ich erinnere daran, daß
der Stoff dieses Dramas gar nicht Shakespeares Erfindung, sondern von dem
späteren Puritaner Whetstone ist.

Bei Romeo und Julia erklärt Rümelin, „daß wenn Romeo, Julia, der
Pater Lorenzo und die Andern ruhige, besonnene, mit vernünftiger Ueberlegung
verfahrende Leute gewesen wären, gar kein Unglück hätte entstehen können." —
Sehr wahrscheinlich.

Für Desdemonas Geschmack wird bemerkt, ihre Liebe zum Venetianer von
maurischer Abkunft sei viel eher zu begreifen als „ihre Neigung über die kau¬
kasische Race hinaus für das Wollhaar und die dicken Wulstlippen des schwar¬
zen Scheusals." Es ist dies eine Ansicht, die das schwarze Scheusal selbst mit
Herrn Rümelin theilt und die bekanntlich ein Hauptmotiv für Othellos Eifer¬
sucht ist.

„Mit der Erklärung des Hamlet," sagt Rümelin, „wird man schwerlich je
zurecht kommen, wenn man nicht schon den ganzen Dichter kennt, wenn man
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[0188] Gegenwart des Königs auszufechtender Ehrenhandel von zwei großen Baronen grade für dieses Publikum haben mühte. Wenn die Freunde des Dichters, die hohen Beschützer seiner Bühne ihren Platz unmittelbar auf dem Bühnenraum hatten und man sich täglich fast körperlich berührte, wenn so der wichtigste Theil des Publikums eine unter sich zusammenhängende und dem Bühnenpersonal persönlich befreundete Coterie bildete, so war der Anlaß so nahe und die Aus¬ führung so leicht, sich unter allen möglichen Gestalten, in Scherz und Ernst, dem größeren Publikum unbemerkt, zu unterhalten." Wir brauchen wacht kaum daran zu erinnern, daß Richards -despotische Brutalität, die sich in der plötzlichen Aufhebung des Turnieres und in der damit verbundenen Verbannung Herefords kundgiebt, grade die tragische Schuld ist. an der er vor Miseren Ana.er zu Grunde geht, daß also der Bau des ganzen Stückes auf diesem ersten Acte beruht und ohne ihn nicht bestehen könnte. Ferner meint Herr Rümelin: „Ein König, der so handele," wie Lear im Anfang der Tragödie, „zeige so wenig Verstand, daß man sich über den bal¬ digen Verlust des Restchens kaum noch wundern könne." — Daß Lears natür¬ liche Anlage zu dem Wahnsinn, den die Vorgänge der Tragödie folgerichtig an ihm ausbilden, auch die Anlage der Tragödie ausmachen mußte, hat der wahr¬ haft realistische Vortrag des Irrenarztes Professor Dr. Heinrich Neumann („Lear und Ophelia. Breslau 1866") treffend nachgewiesen. — In seinem Urtheil über „Maß für Maß" verlangt Herr Rümelin nichts Geringeres, als daß die darin handelnden Personen das Gesetz der Todesstrafe für außerehelichen Liebesgenuß ebenso „unsinnig und undenkbar" finden sollen, wie der Realist d. h. daß die Ge¬ schöpfe des Gedichtes den Dichter blamiren sollen. Ich erinnere daran, daß der Stoff dieses Dramas gar nicht Shakespeares Erfindung, sondern von dem späteren Puritaner Whetstone ist. Bei Romeo und Julia erklärt Rümelin, „daß wenn Romeo, Julia, der Pater Lorenzo und die Andern ruhige, besonnene, mit vernünftiger Ueberlegung verfahrende Leute gewesen wären, gar kein Unglück hätte entstehen können." — Sehr wahrscheinlich. Für Desdemonas Geschmack wird bemerkt, ihre Liebe zum Venetianer von maurischer Abkunft sei viel eher zu begreifen als „ihre Neigung über die kau¬ kasische Race hinaus für das Wollhaar und die dicken Wulstlippen des schwar¬ zen Scheusals." Es ist dies eine Ansicht, die das schwarze Scheusal selbst mit Herrn Rümelin theilt und die bekanntlich ein Hauptmotiv für Othellos Eifer¬ sucht ist. „Mit der Erklärung des Hamlet," sagt Rümelin, „wird man schwerlich je zurecht kommen, wenn man nicht schon den ganzen Dichter kennt, wenn man nicht weiß, welchen Hörerkreis er dabei im Auge hatte, um welche Wirkungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/188>, abgerufen am 22.07.2024.