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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Anderer zu nahe zu treten, darf man wohl behaupten, daß kein Anderer unter
den Lebenden sich an feiner und bis in die allerletzten Tiefen dringenden Er¬
kenntniß unserer Sprache mit ihm messen konnte. Aber er hatte dies, wir
wiederholen es noch einmal, nicht als ein Geschenk irgendeiner transcendentalen
Offenbarung, sondern als die Frucht unermüdlicher, liebevoller und selbstloser
Arbeit. Unzählige Notizensammlungen aller Art, zum Theil bis zum Tage
seines Scheidens fortgesetzt, zeugen davon. Grade in den allerletzten Tagen
beschäftigte er sich bei noch völlig ungeschwächter Geisteskraft mit solchen Fo"
schungen und als er schon die Kraft zum Schreiben verloren hatte, dictirte er,
ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, noch einige Bemerkungen, die sich auf
den Wortschatz unserer lebenden Sprache beziehen, Ergänzungen zum Wörter¬
buche der Gebrüder Grimm, wie er sie früher halb humoristisch bezeichnete.
Denn der Gesichtspunkt, von dem er ausging, war ein grundverschiedener. Ihm
kam es darauf an, der Sprache ihre gesammte Lebensfähigkeit abzulauschen, um
sie zu künstlerischem Gebrauche für sich zu verwenden oder Anderen den Weg
dahin zu zeigen. Die bloße gelehrt-historische Sammlung des Sprachschatzes
einer gewissen äußerlich abgegrenzten Periode, wie etwa seit Luther, hatte für
ihn gar kein Interesse, so sehr er auch den darauf verwandten Fleiß zu wür¬
digen wußte und sich an dem vielen sinnigen und richtig Gesehenen in dem
Detail jenes Werkes erfreute. Seine Mängel liegen so offen vor, daß sie Rückert
am wenigsten entgegen konnten, aber nach seiner Art, die durch und durch
positiv war, verweilte er auch hier mit Borliebe,bei dem, was er und die Welt
aus jener wohlgemeinten und'mühseligen Arbeit gewonnen hatte.

All dies brauchte einem vorurtheilsfreien und verständigen Kenner des
Dichters Rückert nicht gesagt zu werden. Doch da wir an solchen keinen Ueber¬
fluß haben und der Stand unserer deutschen Bildung derartig ist. daß man
auch in der nächsten Zukunft nicht auf die Anbahnung eines innigeren Ver¬
hältnisses zwischen ihm und dem deutschen Publikum zählen darf, so war diese
kurzgefaßte Auseinandersetzung des Sachverhaltes, wenn auch eine Abschweifung,
so doch nothwendig, um die Lüge der banalen Phrase aufzudecken oder alt dem
rechten Namen zu bezeichnen. -- ,

Jene innige Durchdringung des Geistes der Fremde und der deutschen
Heimath, wie sie Rückerts ganze Poesie charakterisirt, hat bekanntlich grade an
einem Stoffe der SanStritliteratur sich am seelenvollsten und kunstreichsten voll¬
zogen. Sein Nal und Damajcinti ist selbst nur von wenigen aus der großen
Last derer bemängelt worden, die von dem "Deutsch-Orientalen Rückert" sonst
nichts wissen wollten. Die überwältigende Schönheit des Stoffes und der
Dichtung konnte selbst auf den stumpfen und groben Sinn, durch den sich im
Allgemeinen unser Publikum vor dem anderer gebildeten Länder unvorteilhaft
auszeichnet, seine Wirkung nicht verfehlen. Wer das Original kennt, weiß, daß


Anderer zu nahe zu treten, darf man wohl behaupten, daß kein Anderer unter
den Lebenden sich an feiner und bis in die allerletzten Tiefen dringenden Er¬
kenntniß unserer Sprache mit ihm messen konnte. Aber er hatte dies, wir
wiederholen es noch einmal, nicht als ein Geschenk irgendeiner transcendentalen
Offenbarung, sondern als die Frucht unermüdlicher, liebevoller und selbstloser
Arbeit. Unzählige Notizensammlungen aller Art, zum Theil bis zum Tage
seines Scheidens fortgesetzt, zeugen davon. Grade in den allerletzten Tagen
beschäftigte er sich bei noch völlig ungeschwächter Geisteskraft mit solchen Fo»
schungen und als er schon die Kraft zum Schreiben verloren hatte, dictirte er,
ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, noch einige Bemerkungen, die sich auf
den Wortschatz unserer lebenden Sprache beziehen, Ergänzungen zum Wörter¬
buche der Gebrüder Grimm, wie er sie früher halb humoristisch bezeichnete.
Denn der Gesichtspunkt, von dem er ausging, war ein grundverschiedener. Ihm
kam es darauf an, der Sprache ihre gesammte Lebensfähigkeit abzulauschen, um
sie zu künstlerischem Gebrauche für sich zu verwenden oder Anderen den Weg
dahin zu zeigen. Die bloße gelehrt-historische Sammlung des Sprachschatzes
einer gewissen äußerlich abgegrenzten Periode, wie etwa seit Luther, hatte für
ihn gar kein Interesse, so sehr er auch den darauf verwandten Fleiß zu wür¬
digen wußte und sich an dem vielen sinnigen und richtig Gesehenen in dem
Detail jenes Werkes erfreute. Seine Mängel liegen so offen vor, daß sie Rückert
am wenigsten entgegen konnten, aber nach seiner Art, die durch und durch
positiv war, verweilte er auch hier mit Borliebe,bei dem, was er und die Welt
aus jener wohlgemeinten und'mühseligen Arbeit gewonnen hatte.

All dies brauchte einem vorurtheilsfreien und verständigen Kenner des
Dichters Rückert nicht gesagt zu werden. Doch da wir an solchen keinen Ueber¬
fluß haben und der Stand unserer deutschen Bildung derartig ist. daß man
auch in der nächsten Zukunft nicht auf die Anbahnung eines innigeren Ver¬
hältnisses zwischen ihm und dem deutschen Publikum zählen darf, so war diese
kurzgefaßte Auseinandersetzung des Sachverhaltes, wenn auch eine Abschweifung,
so doch nothwendig, um die Lüge der banalen Phrase aufzudecken oder alt dem
rechten Namen zu bezeichnen. — ,

Jene innige Durchdringung des Geistes der Fremde und der deutschen
Heimath, wie sie Rückerts ganze Poesie charakterisirt, hat bekanntlich grade an
einem Stoffe der SanStritliteratur sich am seelenvollsten und kunstreichsten voll¬
zogen. Sein Nal und Damajcinti ist selbst nur von wenigen aus der großen
Last derer bemängelt worden, die von dem „Deutsch-Orientalen Rückert" sonst
nichts wissen wollten. Die überwältigende Schönheit des Stoffes und der
Dichtung konnte selbst auf den stumpfen und groben Sinn, durch den sich im
Allgemeinen unser Publikum vor dem anderer gebildeten Länder unvorteilhaft
auszeichnet, seine Wirkung nicht verfehlen. Wer das Original kennt, weiß, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/167>, abgerufen am 04.07.2024.