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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Lateinische als Sprache selbst und in allen Gestaltungen seiner Literatur voll¬
ständig. Ein interessantes Zeugniß dafür ist seine Habilitationsschrift selbst.
Sie ist in einer Art Lateinisch geschrieben, daß die fremde und todte Sprache
vollkommen lebendig und so zu sagen als die Muttersprache des Autors er¬
scheint. Der vulgäre Ausdruck "in classischem Latein geschrieben", der so oft
als ein gedankenloses und zweideutiges Lob angewandt wird, paßt hier am
wenigsten. Er besagt eigentlich ein seelenloses, der wahren inneren Harmonie
und damit der eigentlichen sprachlichen Lebensfähigkeit entbehrendes Flickwerk
aus allerlei Reminiscenzen, für welche es zuletzt nur eines recht handfesten Ge¬
dächtnisses und einer unermüdlichen Uebung bedarf. Jedermann weiß, daß man
mit diesem modernen classischen Latein originelle oder auch nur moderne Ge¬
danken nur stammelnd ausdrücken kann. Hier aber in dieser Abhandlung über
die Idee der Philologie ist nicht blos der Hauptinhalt des modernen philo¬
sophischen Denkens, insbesondere der älteren schellingschen Philosophie, sondern
auch der durchweg originelle Flug eines selbständigen Geistes vollkommen klar
und zureichend, dabei aber auch in der gewandtesten und zierlichsten Form dar¬
gestellt. Es würde nickt leicht sein, ein ähnliches Beispiel vollkommen zutreffen¬
den und schönen Ausdrucks für Materien von dem entschiedensten modernen und
philosophischen Gehalte in deutscher Sprache aufzufinden, geschweige denn unter
den zahlreichen größeren und kleineren lateinisch geschriebenen philosophischen
Büchern und Dissertationen dieser oder auch einer späteren. Daß aber jene
Kritiker alten Schlages, welche nur ihr classisches Latein gelten ließen, wie sie
es eben nicht besser verstanden, auch den formal sprachlichen Ausdruck in Rückerts
Dissertation angriffen und, wie es scheint, heftiger und gereizter als den Inhalt
selbst, der ihnen wahrscheinlich gar zu fern ablag, darf nach dem eben Gesagten
nicht Wunder nehmen.

Das linguistische Interesse Rückerts an der lateinischen Sprache nahm in
dem Maße zu, als er selbst den Kreis seiner sprachlichen Studien immer mehr
erweiterte und was dasselbe war, sich in das Detail immer tiefer versenkte.
Doch hat er ihr nie jene zeitweise ausschließliche Beachtung und Beschäftigung
zugewendet, wie so vielen andern ihrer Schwestern. Da hier die Arbeit nach
der Beschaffenheit des Materials und der Zahl der damit beschäftigten Kräfre
eine leichtere war als anderswo, so überließ er sie im Wesentlichen Anderen,
ohn" sich ganz von ihr zurückzuziehen. Dagegen fesselte ihn die künstlerische
Seite der lateinischen Literatur noch bis zuletzt. Ihre Bedingtheit von dem
Vorbilde der griechischen und wiederum ihre relative Originalität boten ihm
einen fortwährenden Reiz. Vor allem war es die römische Lyrik, der er grade
so wie der griechischen, ja fast noch eifriger, seine receptive Productivität zu¬
wandte. Seine metrischen und rhythmischen Studien gingen, wie schon bemerkt,
naturgemäß immer vom Griechischen aus, aber das Lateinische wurde ebenso


Lateinische als Sprache selbst und in allen Gestaltungen seiner Literatur voll¬
ständig. Ein interessantes Zeugniß dafür ist seine Habilitationsschrift selbst.
Sie ist in einer Art Lateinisch geschrieben, daß die fremde und todte Sprache
vollkommen lebendig und so zu sagen als die Muttersprache des Autors er¬
scheint. Der vulgäre Ausdruck „in classischem Latein geschrieben", der so oft
als ein gedankenloses und zweideutiges Lob angewandt wird, paßt hier am
wenigsten. Er besagt eigentlich ein seelenloses, der wahren inneren Harmonie
und damit der eigentlichen sprachlichen Lebensfähigkeit entbehrendes Flickwerk
aus allerlei Reminiscenzen, für welche es zuletzt nur eines recht handfesten Ge¬
dächtnisses und einer unermüdlichen Uebung bedarf. Jedermann weiß, daß man
mit diesem modernen classischen Latein originelle oder auch nur moderne Ge¬
danken nur stammelnd ausdrücken kann. Hier aber in dieser Abhandlung über
die Idee der Philologie ist nicht blos der Hauptinhalt des modernen philo¬
sophischen Denkens, insbesondere der älteren schellingschen Philosophie, sondern
auch der durchweg originelle Flug eines selbständigen Geistes vollkommen klar
und zureichend, dabei aber auch in der gewandtesten und zierlichsten Form dar¬
gestellt. Es würde nickt leicht sein, ein ähnliches Beispiel vollkommen zutreffen¬
den und schönen Ausdrucks für Materien von dem entschiedensten modernen und
philosophischen Gehalte in deutscher Sprache aufzufinden, geschweige denn unter
den zahlreichen größeren und kleineren lateinisch geschriebenen philosophischen
Büchern und Dissertationen dieser oder auch einer späteren. Daß aber jene
Kritiker alten Schlages, welche nur ihr classisches Latein gelten ließen, wie sie
es eben nicht besser verstanden, auch den formal sprachlichen Ausdruck in Rückerts
Dissertation angriffen und, wie es scheint, heftiger und gereizter als den Inhalt
selbst, der ihnen wahrscheinlich gar zu fern ablag, darf nach dem eben Gesagten
nicht Wunder nehmen.

Das linguistische Interesse Rückerts an der lateinischen Sprache nahm in
dem Maße zu, als er selbst den Kreis seiner sprachlichen Studien immer mehr
erweiterte und was dasselbe war, sich in das Detail immer tiefer versenkte.
Doch hat er ihr nie jene zeitweise ausschließliche Beachtung und Beschäftigung
zugewendet, wie so vielen andern ihrer Schwestern. Da hier die Arbeit nach
der Beschaffenheit des Materials und der Zahl der damit beschäftigten Kräfre
eine leichtere war als anderswo, so überließ er sie im Wesentlichen Anderen,
ohn» sich ganz von ihr zurückzuziehen. Dagegen fesselte ihn die künstlerische
Seite der lateinischen Literatur noch bis zuletzt. Ihre Bedingtheit von dem
Vorbilde der griechischen und wiederum ihre relative Originalität boten ihm
einen fortwährenden Reiz. Vor allem war es die römische Lyrik, der er grade
so wie der griechischen, ja fast noch eifriger, seine receptive Productivität zu¬
wandte. Seine metrischen und rhythmischen Studien gingen, wie schon bemerkt,
naturgemäß immer vom Griechischen aus, aber das Lateinische wurde ebenso


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[0154] Lateinische als Sprache selbst und in allen Gestaltungen seiner Literatur voll¬ ständig. Ein interessantes Zeugniß dafür ist seine Habilitationsschrift selbst. Sie ist in einer Art Lateinisch geschrieben, daß die fremde und todte Sprache vollkommen lebendig und so zu sagen als die Muttersprache des Autors er¬ scheint. Der vulgäre Ausdruck „in classischem Latein geschrieben", der so oft als ein gedankenloses und zweideutiges Lob angewandt wird, paßt hier am wenigsten. Er besagt eigentlich ein seelenloses, der wahren inneren Harmonie und damit der eigentlichen sprachlichen Lebensfähigkeit entbehrendes Flickwerk aus allerlei Reminiscenzen, für welche es zuletzt nur eines recht handfesten Ge¬ dächtnisses und einer unermüdlichen Uebung bedarf. Jedermann weiß, daß man mit diesem modernen classischen Latein originelle oder auch nur moderne Ge¬ danken nur stammelnd ausdrücken kann. Hier aber in dieser Abhandlung über die Idee der Philologie ist nicht blos der Hauptinhalt des modernen philo¬ sophischen Denkens, insbesondere der älteren schellingschen Philosophie, sondern auch der durchweg originelle Flug eines selbständigen Geistes vollkommen klar und zureichend, dabei aber auch in der gewandtesten und zierlichsten Form dar¬ gestellt. Es würde nickt leicht sein, ein ähnliches Beispiel vollkommen zutreffen¬ den und schönen Ausdrucks für Materien von dem entschiedensten modernen und philosophischen Gehalte in deutscher Sprache aufzufinden, geschweige denn unter den zahlreichen größeren und kleineren lateinisch geschriebenen philosophischen Büchern und Dissertationen dieser oder auch einer späteren. Daß aber jene Kritiker alten Schlages, welche nur ihr classisches Latein gelten ließen, wie sie es eben nicht besser verstanden, auch den formal sprachlichen Ausdruck in Rückerts Dissertation angriffen und, wie es scheint, heftiger und gereizter als den Inhalt selbst, der ihnen wahrscheinlich gar zu fern ablag, darf nach dem eben Gesagten nicht Wunder nehmen. Das linguistische Interesse Rückerts an der lateinischen Sprache nahm in dem Maße zu, als er selbst den Kreis seiner sprachlichen Studien immer mehr erweiterte und was dasselbe war, sich in das Detail immer tiefer versenkte. Doch hat er ihr nie jene zeitweise ausschließliche Beachtung und Beschäftigung zugewendet, wie so vielen andern ihrer Schwestern. Da hier die Arbeit nach der Beschaffenheit des Materials und der Zahl der damit beschäftigten Kräfre eine leichtere war als anderswo, so überließ er sie im Wesentlichen Anderen, ohn» sich ganz von ihr zurückzuziehen. Dagegen fesselte ihn die künstlerische Seite der lateinischen Literatur noch bis zuletzt. Ihre Bedingtheit von dem Vorbilde der griechischen und wiederum ihre relative Originalität boten ihm einen fortwährenden Reiz. Vor allem war es die römische Lyrik, der er grade so wie der griechischen, ja fast noch eifriger, seine receptive Productivität zu¬ wandte. Seine metrischen und rhythmischen Studien gingen, wie schon bemerkt, naturgemäß immer vom Griechischen aus, aber das Lateinische wurde ebenso

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/154>, abgerufen am 25.07.2024.