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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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von einem Gedicht verschiedene Redactionen vorliegen, von denen die spätere
eine Ueberarbeitung in christlichem Sinn ist (so Madrigal 45, Sonett S1).
Zahlreiche Gedichte schildern den Widerstreit, in den neue Liebe mit den Jah¬
ren des Dichters kommt. Noch leistet die Liebe tapfern Widerstand. "Der
Sklave/ heißt es Sonett 46, "gewöhnt sich an seine Kette, der Tiger und der
Löwe werden mit der Zeit gezähmt, aber anders ist es mit der Liebe: sie
nimmt dem jungen Holze Kraft, das alte macht sie wieder jung und feurig.
Die Lüge, daß im Alter Schande sei ein Göttliches zu lieben! Nicht Sünde
ist es, das zu lieben, was die Natur uns bietet, wenn es mit rechtem Maß
und Ziel geschieht." Oder Sonett 49: "Vom Sinn bezwungen bin ich vom
ewgen Frieden zur kurzen Lust der Liebe zurückgesunken. Aber deine Schön¬
heit ist nichts Sterbliches, der Himmel selbst hat sie gemacht, und wenn er
dir selbst die Waffen gegeben, mich zu besiegen, wer kann mich schelten?"

Aber die Kraft dieser Argumente hält nicht vor. Der Gedanke an den
Tod kehrt unabweisbar wieder. Amor und der Tod streiten um die Seele, und
die Furcht vor dem zweiten Tode, dem der Verdammniß, läßt keine Liebes-
freudigkeit mehr aufkommen. Der Dichter wünscht selbst das Ende herbei:
Das Licht ist ausgelöscht, das Falsche triumphirt, jeder Tag, den er länger
lebt, mehrt die Sünde, und was nützt dann die Gnade, wenn in solchem Zu¬
stand die Seele abgerufen wird? Darum bittet er, der Herr möge ihn ab¬
rufen, wenn zuweilen Heilger Eifer ihn erfasse und die Gewißheit, daß eigenes
Verdienst nichts ist; denn nicht anhaltend ist der gute Wille. Ergreifend ist
dieser innere Kampf zuweilen geschildert: "Es lügt das Blatt und heuchelt meine
Feder, nur mit der Zunge lieb ich dich, Herr, und nicht ins Herz dringt deine
Liebe; zerreiß den Schleier, Herr, durchbrich die Mauer, die deines Lichtes
Glanz aufhält, und laß sie scheinen in mein Herz." Mehre dieser Gedichte ge¬
hören zu den formell vorzüglichsten. Reue, Sehnsucht nach Frieden, Gebet ist
ihr Inhalt. Der am Kreuz ist die einzige Rettung gegen die alte sündige Ge¬
wohnheit. Denn Sünde erscheint ihm jetzt sein ganzes Leben, seine Liebe,
seine Ideale, selbst sein künstlerisches Schaffen. Ente Phantasien sinds gewesen
und falsche Liebe. "Die Fabeln der Welt," schreibt der Achtzigjährige in einem
Gedicht an den Monsgr. Beccadelli, "haben mir die Zeit, Gott zu betrachten,
geraubt, und seine Gnade habe ich nicht blos verschmäht, sondern mißbraucht;
laß mich, Herr, die Welt hassen mit all ihren Schönheiten, die ich verehre, da¬
mit ich vor dem Tod das ewge Leben erwerbe." Müde der stürmischen Fahrt
lenkt er am Ende des Lebens Barte zu Gott und fleht zu der göttlichen Liebe,
die am Kreuz die Arme den Reuigen ausstreckt. Der stolze Platoniker endet
gebrochen, sein Leben beweinend, seine Ideale hassend, nach Gott allein ver¬
langend -- ottiwo onristiano, wie Condivi sagt.

So begleiten uns diese Gedichte bis an den Lebensabend Michelangelos.


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von einem Gedicht verschiedene Redactionen vorliegen, von denen die spätere
eine Ueberarbeitung in christlichem Sinn ist (so Madrigal 45, Sonett S1).
Zahlreiche Gedichte schildern den Widerstreit, in den neue Liebe mit den Jah¬
ren des Dichters kommt. Noch leistet die Liebe tapfern Widerstand. „Der
Sklave/ heißt es Sonett 46, „gewöhnt sich an seine Kette, der Tiger und der
Löwe werden mit der Zeit gezähmt, aber anders ist es mit der Liebe: sie
nimmt dem jungen Holze Kraft, das alte macht sie wieder jung und feurig.
Die Lüge, daß im Alter Schande sei ein Göttliches zu lieben! Nicht Sünde
ist es, das zu lieben, was die Natur uns bietet, wenn es mit rechtem Maß
und Ziel geschieht." Oder Sonett 49: „Vom Sinn bezwungen bin ich vom
ewgen Frieden zur kurzen Lust der Liebe zurückgesunken. Aber deine Schön¬
heit ist nichts Sterbliches, der Himmel selbst hat sie gemacht, und wenn er
dir selbst die Waffen gegeben, mich zu besiegen, wer kann mich schelten?"

Aber die Kraft dieser Argumente hält nicht vor. Der Gedanke an den
Tod kehrt unabweisbar wieder. Amor und der Tod streiten um die Seele, und
die Furcht vor dem zweiten Tode, dem der Verdammniß, läßt keine Liebes-
freudigkeit mehr aufkommen. Der Dichter wünscht selbst das Ende herbei:
Das Licht ist ausgelöscht, das Falsche triumphirt, jeder Tag, den er länger
lebt, mehrt die Sünde, und was nützt dann die Gnade, wenn in solchem Zu¬
stand die Seele abgerufen wird? Darum bittet er, der Herr möge ihn ab¬
rufen, wenn zuweilen Heilger Eifer ihn erfasse und die Gewißheit, daß eigenes
Verdienst nichts ist; denn nicht anhaltend ist der gute Wille. Ergreifend ist
dieser innere Kampf zuweilen geschildert: „Es lügt das Blatt und heuchelt meine
Feder, nur mit der Zunge lieb ich dich, Herr, und nicht ins Herz dringt deine
Liebe; zerreiß den Schleier, Herr, durchbrich die Mauer, die deines Lichtes
Glanz aufhält, und laß sie scheinen in mein Herz." Mehre dieser Gedichte ge¬
hören zu den formell vorzüglichsten. Reue, Sehnsucht nach Frieden, Gebet ist
ihr Inhalt. Der am Kreuz ist die einzige Rettung gegen die alte sündige Ge¬
wohnheit. Denn Sünde erscheint ihm jetzt sein ganzes Leben, seine Liebe,
seine Ideale, selbst sein künstlerisches Schaffen. Ente Phantasien sinds gewesen
und falsche Liebe. „Die Fabeln der Welt," schreibt der Achtzigjährige in einem
Gedicht an den Monsgr. Beccadelli, „haben mir die Zeit, Gott zu betrachten,
geraubt, und seine Gnade habe ich nicht blos verschmäht, sondern mißbraucht;
laß mich, Herr, die Welt hassen mit all ihren Schönheiten, die ich verehre, da¬
mit ich vor dem Tod das ewge Leben erwerbe." Müde der stürmischen Fahrt
lenkt er am Ende des Lebens Barte zu Gott und fleht zu der göttlichen Liebe,
die am Kreuz die Arme den Reuigen ausstreckt. Der stolze Platoniker endet
gebrochen, sein Leben beweinend, seine Ideale hassend, nach Gott allein ver¬
langend — ottiwo onristiano, wie Condivi sagt.

So begleiten uns diese Gedichte bis an den Lebensabend Michelangelos.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/79>, abgerufen am 22.07.2024.