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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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das Testament eine Clausel, wonach auch jetzt noch jede Veröffentlichung unter¬
bleiben sollte. Allein man scheint glücklicherweise über diese Clausel sich hin¬
weggesetzt zu haben. Von dem Verwaltungsrath wurden sofort einige Gelehrte
mit der Durchforschung der Schätze beauftragt. Gaetano Milanesi, der Director
des toscanischen Centrcilarchivs, sollte die vorhandenen Briefe, der Inspector
Cavallucci den poetischen Nachlaß bearbeiten. An des letzteren Stelle trat dann
der Professor A. Guasti, der zuvor schon eine neue Ausgabe der Gedichte hatte
unternehmen wollen. Die Herausgabe der Briefe, die eine außerordentlich reiche
Ausbeute versprechen (es haben sich allein 300 Briefe von der Hand Michel¬
angelos vorgefunden, und noch weit größer ist die Zahl der an ihn gerichteten),
läßt noch immer auf sich warten, obwohl Milanesi schon im Jahr 1861 an¬
zeigen konnte, daß alles druckfertig vorliege. Die kritische Ausgabe der Gedichte
aber, von Guasti besorgt, ist vor zwei Jahren erschienen. Die Erwartungen,
mit denen man dieser Veröffentlichung entgegensah, sind nicht getäuscht worden.
Jetzt erst liegen die echten Gedichte Michelangelos vor. Was man
bisher unter diesem Titel kannte, war eine Ueb erarbeitung, die
heute werthlos geworden ist.

Zuerst ein Wort von der Ausgabe selbst. Es ist ein Quartband von un¬
gewöhnlich glänzender Ausstattung. Vorausgeht eine Widmung an A. Conti,
den Professor der Philosophie in Pisa, der durch seine Bekämpfung der mate¬
rialistischen wie der hegelschen Lehren bekannt ist. Eine eingehende historisch¬
kritische Abhandlung Guastis verbreitet sich über Michelangelo als Dichter und
über die gegenwärtige Ausgabe. Es folgt eine Beschreibung der für die Edition
benutzten zwölf Codices, unter welchen bei weitem die wichtigsten der sogenannte
Autografo im Museum Buonarroti und der vaticanische sind. Beide haben
nur sechsunddreißig Gedichte gemeinsam. Daran reiht sich das Verzeichniß L,
die Beschreibung der Ausgaben, Uebersetzungen und sonstigen hierher gehörigen
Schriften. Nicht vergessen ist die bekannte Vorlesung Varchis vom Jahr 1S46
über das Sonett: "Mir Kg, l'vltimo g-reifes, alcun eorroetto", sowie die Vor¬
lesungen Mario Guiduccis über die erste Ausgabe von 1623, akademische Stücke,
denen man durch immer erneuten Abdruck viel Ehre anthut. Nun folgen die
Gedichte; erst die Epigramme und Grabschriften, dann die Madrigale, die Sonette,
die Capitoli (Terzinen), die Stanzen und die Canzonen. In der Regel steht
ein Gedicht je auf einer Seite. Darüber rechts und links sind die Codices an¬
gegeben, aus denen es genommen. Darunter die verschiedenen Lesarten, auch
kleinere kritische Bemerkungen; dann eine prosaische Paraphrase des Gedichts,
endlich zu unterst, zur Vergleichung, der überlieferte Text. Die ganze Anord¬
nung ist bequem und zeugt von Fleiß und sorgfältiger Sichtung des Materials.

Und doch wäre eine noch größere Sorgfalt erwünscht. Für eine kritische
Ausgabe,, die zum ersten Mal die bis jetzt und vielleicht auch noch künftig der


das Testament eine Clausel, wonach auch jetzt noch jede Veröffentlichung unter¬
bleiben sollte. Allein man scheint glücklicherweise über diese Clausel sich hin¬
weggesetzt zu haben. Von dem Verwaltungsrath wurden sofort einige Gelehrte
mit der Durchforschung der Schätze beauftragt. Gaetano Milanesi, der Director
des toscanischen Centrcilarchivs, sollte die vorhandenen Briefe, der Inspector
Cavallucci den poetischen Nachlaß bearbeiten. An des letzteren Stelle trat dann
der Professor A. Guasti, der zuvor schon eine neue Ausgabe der Gedichte hatte
unternehmen wollen. Die Herausgabe der Briefe, die eine außerordentlich reiche
Ausbeute versprechen (es haben sich allein 300 Briefe von der Hand Michel¬
angelos vorgefunden, und noch weit größer ist die Zahl der an ihn gerichteten),
läßt noch immer auf sich warten, obwohl Milanesi schon im Jahr 1861 an¬
zeigen konnte, daß alles druckfertig vorliege. Die kritische Ausgabe der Gedichte
aber, von Guasti besorgt, ist vor zwei Jahren erschienen. Die Erwartungen,
mit denen man dieser Veröffentlichung entgegensah, sind nicht getäuscht worden.
Jetzt erst liegen die echten Gedichte Michelangelos vor. Was man
bisher unter diesem Titel kannte, war eine Ueb erarbeitung, die
heute werthlos geworden ist.

Zuerst ein Wort von der Ausgabe selbst. Es ist ein Quartband von un¬
gewöhnlich glänzender Ausstattung. Vorausgeht eine Widmung an A. Conti,
den Professor der Philosophie in Pisa, der durch seine Bekämpfung der mate¬
rialistischen wie der hegelschen Lehren bekannt ist. Eine eingehende historisch¬
kritische Abhandlung Guastis verbreitet sich über Michelangelo als Dichter und
über die gegenwärtige Ausgabe. Es folgt eine Beschreibung der für die Edition
benutzten zwölf Codices, unter welchen bei weitem die wichtigsten der sogenannte
Autografo im Museum Buonarroti und der vaticanische sind. Beide haben
nur sechsunddreißig Gedichte gemeinsam. Daran reiht sich das Verzeichniß L,
die Beschreibung der Ausgaben, Uebersetzungen und sonstigen hierher gehörigen
Schriften. Nicht vergessen ist die bekannte Vorlesung Varchis vom Jahr 1S46
über das Sonett: „Mir Kg, l'vltimo g-reifes, alcun eorroetto", sowie die Vor¬
lesungen Mario Guiduccis über die erste Ausgabe von 1623, akademische Stücke,
denen man durch immer erneuten Abdruck viel Ehre anthut. Nun folgen die
Gedichte; erst die Epigramme und Grabschriften, dann die Madrigale, die Sonette,
die Capitoli (Terzinen), die Stanzen und die Canzonen. In der Regel steht
ein Gedicht je auf einer Seite. Darüber rechts und links sind die Codices an¬
gegeben, aus denen es genommen. Darunter die verschiedenen Lesarten, auch
kleinere kritische Bemerkungen; dann eine prosaische Paraphrase des Gedichts,
endlich zu unterst, zur Vergleichung, der überlieferte Text. Die ganze Anord¬
nung ist bequem und zeugt von Fleiß und sorgfältiger Sichtung des Materials.

Und doch wäre eine noch größere Sorgfalt erwünscht. Für eine kritische
Ausgabe,, die zum ersten Mal die bis jetzt und vielleicht auch noch künftig der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/40>, abgerufen am 22.07.2024.