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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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ein entschiedener Anhänger des Bundesstaates; aber die Existenz der Klein- und
besonders wohl der Mittelstaaten hat in seinen Augen eine so hohe Bedeutung
für die culturhistorische und freiheitliche Entwicklung Deutschlands, daß ihm ein
Aufgehen derselben in einen größern Staat ebenso verwerflich wie thöricht
erscheint. Er spricht es scharf aus, daß die geistige Hegemonie in Deutschland
zu allen Zeiten, "wie auch jetzt noch, jetzt wieder" bei den kleinern deutschen
Staaten war! Und an einer andern Stelle in der Charakteristik der wissen¬
schaftlichen Bedeutung I. Grimms sagt er: "Ihm (I. Grimm) war unfaßlich,
wie ein Deutscher der Mittelstaaten, die z. Th. eine ungleich stolzere (!!) Geschichte
als beide deutsche Großstaaten haben, um der Gemeinheit und der Einheit
willen, die in einer strengen Bundesverfassung zu wahren ist, seine Sonder¬
einheit an einen Einheitsstaat verrathen sollte, ein Mißgedanke, der jeden ameri¬
kanischen Staatenbürger, der jedem Schweizer des winzigsten Cantönchens un¬
denkbar ist, der aber Millionen Deutschen in ihrer politischen Gedankenlosigkeit
und Verkommenheit arglos geläufig ist." Wenn Gervinus die geistige Hege¬
monie in Deutschland den kleineren Staaten zuschreibt, so denkt er dabei, wie die
scharfe Hinweisung auf die Gegenwart beweist, nicht blos an die Leistungen
einiger derselben auf dem Gebiete der Künste und Wissenschaften -- auch in
diesem engern Sinn gefaßt, wäre der Gedanke anfechtbar -- sondern er stellt
offenbar die rasche politische, freiheitliche Entwicklung der Kleinstaaten dem lang¬
samen Fortschritte Preußens auf der Bahn der politischen Freiheit entgegen.
Nun ist allerdings den kleinern Staaten der Ruhm nicht abzusprechen, daß sie
in der Entwicklung der constitutionellen Staatsform Preußen vorangegangen
sind, ja daß sie infolge dieses Vorganges einen nicht unbedeutenden Einfluß
auf die inneren Verhältnisse Preußens selbst ausgeübt haben: sie haben eine
Zeit lang da angeregt, wo Preußen zu seinem Nachtheil der Anregung bedürfte.
Weiter aber erstreckt sich ihre Führung nicht. Zu einer Lösung der großen
Aufgaben des Staates waren sie. wie z. B. ihre gegenwärtige Kriegführung
zeigt, als Kleinstaaten vollkommen unfähig. Unzweifelhaft verdient die Politik
der mittelstaatlichen Regierungen gleich nach 1816, durch Einführung verfassungs¬
mäßiger Staatsformen eine starke Stellung den Großstaaten gegenüber zu ge¬
winnen, eine -- sehr bedingte -- Anerkennung. Aber ist es denn nur einer derselben
gelungen, vermittelst ihres Verfassungsmechanismus ein Staatswesen im mo¬
dernen Sinne des Wortes zu schaffen, ihren Angehörigen das Bewußtsein zu
erwecken, daß der einzige Rechtsanspruch, den die Einzelnen auf politische Frei¬
heit haben, in der bereitwilligen Uebernahme und der selbstlosen, hingebenden
Erfüllung schwerer und oft wahrlich recht ungemüthlicher Pflichten besteht, daß
nicht die Freiheit den Staat gründet, sondern daß die strenge Zucht des Staates
mit ihren rücksichtlosen Anforderungen an Gut und Blut des Bürgers die
hohe Schule der politischen Freiheit ist? Ist ihnen ferner gelungen, die Majo-


ein entschiedener Anhänger des Bundesstaates; aber die Existenz der Klein- und
besonders wohl der Mittelstaaten hat in seinen Augen eine so hohe Bedeutung
für die culturhistorische und freiheitliche Entwicklung Deutschlands, daß ihm ein
Aufgehen derselben in einen größern Staat ebenso verwerflich wie thöricht
erscheint. Er spricht es scharf aus, daß die geistige Hegemonie in Deutschland
zu allen Zeiten, „wie auch jetzt noch, jetzt wieder" bei den kleinern deutschen
Staaten war! Und an einer andern Stelle in der Charakteristik der wissen¬
schaftlichen Bedeutung I. Grimms sagt er: „Ihm (I. Grimm) war unfaßlich,
wie ein Deutscher der Mittelstaaten, die z. Th. eine ungleich stolzere (!!) Geschichte
als beide deutsche Großstaaten haben, um der Gemeinheit und der Einheit
willen, die in einer strengen Bundesverfassung zu wahren ist, seine Sonder¬
einheit an einen Einheitsstaat verrathen sollte, ein Mißgedanke, der jeden ameri¬
kanischen Staatenbürger, der jedem Schweizer des winzigsten Cantönchens un¬
denkbar ist, der aber Millionen Deutschen in ihrer politischen Gedankenlosigkeit
und Verkommenheit arglos geläufig ist." Wenn Gervinus die geistige Hege¬
monie in Deutschland den kleineren Staaten zuschreibt, so denkt er dabei, wie die
scharfe Hinweisung auf die Gegenwart beweist, nicht blos an die Leistungen
einiger derselben auf dem Gebiete der Künste und Wissenschaften — auch in
diesem engern Sinn gefaßt, wäre der Gedanke anfechtbar — sondern er stellt
offenbar die rasche politische, freiheitliche Entwicklung der Kleinstaaten dem lang¬
samen Fortschritte Preußens auf der Bahn der politischen Freiheit entgegen.
Nun ist allerdings den kleinern Staaten der Ruhm nicht abzusprechen, daß sie
in der Entwicklung der constitutionellen Staatsform Preußen vorangegangen
sind, ja daß sie infolge dieses Vorganges einen nicht unbedeutenden Einfluß
auf die inneren Verhältnisse Preußens selbst ausgeübt haben: sie haben eine
Zeit lang da angeregt, wo Preußen zu seinem Nachtheil der Anregung bedürfte.
Weiter aber erstreckt sich ihre Führung nicht. Zu einer Lösung der großen
Aufgaben des Staates waren sie. wie z. B. ihre gegenwärtige Kriegführung
zeigt, als Kleinstaaten vollkommen unfähig. Unzweifelhaft verdient die Politik
der mittelstaatlichen Regierungen gleich nach 1816, durch Einführung verfassungs¬
mäßiger Staatsformen eine starke Stellung den Großstaaten gegenüber zu ge¬
winnen, eine — sehr bedingte — Anerkennung. Aber ist es denn nur einer derselben
gelungen, vermittelst ihres Verfassungsmechanismus ein Staatswesen im mo¬
dernen Sinne des Wortes zu schaffen, ihren Angehörigen das Bewußtsein zu
erwecken, daß der einzige Rechtsanspruch, den die Einzelnen auf politische Frei¬
heit haben, in der bereitwilligen Uebernahme und der selbstlosen, hingebenden
Erfüllung schwerer und oft wahrlich recht ungemüthlicher Pflichten besteht, daß
nicht die Freiheit den Staat gründet, sondern daß die strenge Zucht des Staates
mit ihren rücksichtlosen Anforderungen an Gut und Blut des Bürgers die
hohe Schule der politischen Freiheit ist? Ist ihnen ferner gelungen, die Majo-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/314>, abgerufen am 22.07.2024.