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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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und ihm einen allgemeinen, geistigen, weitumfassenden Inhalt zu geben, bald
in den Dienst des entgegengesetzten Princips. Nachdem die romantische Poesie
in Deutschland sich bereits im Sande verlaufen hatte, wirkte sie noch fort in
dem Anstoß, den sie der Pflege der Wissenschaften, besonders der historischen
und dem Studium der Germanisten gegeben hatte. In Frankreich vollzog sich,
wie wir schon oben an einzelnen Beispielen gezeigt haben, der große Umschwung
auf dem Gebiete der Poesie selbst. Die verschiedenen Richtungen der allge¬
meinen Bildung vereinen sich in dem großen Gedanken der 'politischen Freiheit,
die auf mannigfach verschlungenem Pfade ihrer Verwirklichung zustrebt. Nicht
in jeder Beziehung war die kosmopolitische Allgemeinheit des Freiheitstriebes
der politischen Entwicklung günstig; es war aber gleichsam eine Naturnoth-
wendigkeit, daß der Solidarität der conservativen Interessen eine Solidarität
der liberalen Bestrebungen gegenübertrat; erst das Erwachen des Nationalitäts¬
gedankens, das einer spätern Periode angehört, zu dem aber die belgische Revo¬
lution ein bedeutungsvolles Lorspiel bildet, hat in neuerer Zeit die Entwicklung
des Freiheitsgedankens wieder an die natürliche Grundlage der besonderen
Volkstümlichkeiten angeknüpft.

Eingehend spricht sich Gervinus in der großen culturhistorischen Rundschau,
die er diesem Bande vorausschickt, über die Entwickelungsgesetze der deutschen
Nationalideen aus, über ihre mannigfachen Ablenkungen, über die Wechsel¬
wirkung zwischen geistiger und politischer Arbeit. In dieser geistvollen Erör¬
terung, wie in einigen gelegentlichen Bemerkungen über Zeitfragen, ist aber der
Verfasser offenbar beeinflußt durch seine Parteistellung zu der neueren Entwicklung
der deutschen Verhältnisse, mit deren Verlauf er wenig übereinstimmt. Seine
Mißstimmung über den Gang der Schleswig-holsteinischen Frage tritt z. B. sehr
scharf hervor in einer bittern Parallele zwischen Polignacs Expedition gegen Algier
und der bismarckschen Politik in dem dänisch-deutschen Conflicte: eine Parallele,
die, so blendend sie durchgeführt ist, doch nur dann richtig sein würde, wenn
die Voraussetzung begründet wäre, daß die auswärtige Politik in den Augen
des Grafen Bismarck nur ein Mittel wäre zur Durchführung einer rücksichts¬
losen Reactionspolitik im Innern : eine Anschauung, die gegenwärtig auch wohl
unter den Gegnern dieses Staatsmannes wenig Anhänger finden wird. Ger¬
vinus geht in seiner Abneigung so weit, die Gleichgiltigkeit der Franzosen
gegen die Erfolge der algierischen Expedition rühmend der Begeisterung des
preußischen Volkes über die Waffenthaten in Schleswig gegenüber zu stellen.
Die Sympathien von Gervinus für die Politik des Bundestags und der mit
demselben eng allurten großdeutschen Demokratie erklärt sich z. Th. aus seiner
sehr entschiedenen Abneigung gegen jede Wendung der deutschen Dinge, die
unter Vernichtung der Kleinstaaten sich in der Richtung auf den Einheitsstaat
bewegt. Gervinus ist zwar kein Vertheidiger der kleinstaatlichen Misere: er ist


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und ihm einen allgemeinen, geistigen, weitumfassenden Inhalt zu geben, bald
in den Dienst des entgegengesetzten Princips. Nachdem die romantische Poesie
in Deutschland sich bereits im Sande verlaufen hatte, wirkte sie noch fort in
dem Anstoß, den sie der Pflege der Wissenschaften, besonders der historischen
und dem Studium der Germanisten gegeben hatte. In Frankreich vollzog sich,
wie wir schon oben an einzelnen Beispielen gezeigt haben, der große Umschwung
auf dem Gebiete der Poesie selbst. Die verschiedenen Richtungen der allge¬
meinen Bildung vereinen sich in dem großen Gedanken der 'politischen Freiheit,
die auf mannigfach verschlungenem Pfade ihrer Verwirklichung zustrebt. Nicht
in jeder Beziehung war die kosmopolitische Allgemeinheit des Freiheitstriebes
der politischen Entwicklung günstig; es war aber gleichsam eine Naturnoth-
wendigkeit, daß der Solidarität der conservativen Interessen eine Solidarität
der liberalen Bestrebungen gegenübertrat; erst das Erwachen des Nationalitäts¬
gedankens, das einer spätern Periode angehört, zu dem aber die belgische Revo¬
lution ein bedeutungsvolles Lorspiel bildet, hat in neuerer Zeit die Entwicklung
des Freiheitsgedankens wieder an die natürliche Grundlage der besonderen
Volkstümlichkeiten angeknüpft.

Eingehend spricht sich Gervinus in der großen culturhistorischen Rundschau,
die er diesem Bande vorausschickt, über die Entwickelungsgesetze der deutschen
Nationalideen aus, über ihre mannigfachen Ablenkungen, über die Wechsel¬
wirkung zwischen geistiger und politischer Arbeit. In dieser geistvollen Erör¬
terung, wie in einigen gelegentlichen Bemerkungen über Zeitfragen, ist aber der
Verfasser offenbar beeinflußt durch seine Parteistellung zu der neueren Entwicklung
der deutschen Verhältnisse, mit deren Verlauf er wenig übereinstimmt. Seine
Mißstimmung über den Gang der Schleswig-holsteinischen Frage tritt z. B. sehr
scharf hervor in einer bittern Parallele zwischen Polignacs Expedition gegen Algier
und der bismarckschen Politik in dem dänisch-deutschen Conflicte: eine Parallele,
die, so blendend sie durchgeführt ist, doch nur dann richtig sein würde, wenn
die Voraussetzung begründet wäre, daß die auswärtige Politik in den Augen
des Grafen Bismarck nur ein Mittel wäre zur Durchführung einer rücksichts¬
losen Reactionspolitik im Innern : eine Anschauung, die gegenwärtig auch wohl
unter den Gegnern dieses Staatsmannes wenig Anhänger finden wird. Ger¬
vinus geht in seiner Abneigung so weit, die Gleichgiltigkeit der Franzosen
gegen die Erfolge der algierischen Expedition rühmend der Begeisterung des
preußischen Volkes über die Waffenthaten in Schleswig gegenüber zu stellen.
Die Sympathien von Gervinus für die Politik des Bundestags und der mit
demselben eng allurten großdeutschen Demokratie erklärt sich z. Th. aus seiner
sehr entschiedenen Abneigung gegen jede Wendung der deutschen Dinge, die
unter Vernichtung der Kleinstaaten sich in der Richtung auf den Einheitsstaat
bewegt. Gervinus ist zwar kein Vertheidiger der kleinstaatlichen Misere: er ist


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[0313] und ihm einen allgemeinen, geistigen, weitumfassenden Inhalt zu geben, bald in den Dienst des entgegengesetzten Princips. Nachdem die romantische Poesie in Deutschland sich bereits im Sande verlaufen hatte, wirkte sie noch fort in dem Anstoß, den sie der Pflege der Wissenschaften, besonders der historischen und dem Studium der Germanisten gegeben hatte. In Frankreich vollzog sich, wie wir schon oben an einzelnen Beispielen gezeigt haben, der große Umschwung auf dem Gebiete der Poesie selbst. Die verschiedenen Richtungen der allge¬ meinen Bildung vereinen sich in dem großen Gedanken der 'politischen Freiheit, die auf mannigfach verschlungenem Pfade ihrer Verwirklichung zustrebt. Nicht in jeder Beziehung war die kosmopolitische Allgemeinheit des Freiheitstriebes der politischen Entwicklung günstig; es war aber gleichsam eine Naturnoth- wendigkeit, daß der Solidarität der conservativen Interessen eine Solidarität der liberalen Bestrebungen gegenübertrat; erst das Erwachen des Nationalitäts¬ gedankens, das einer spätern Periode angehört, zu dem aber die belgische Revo¬ lution ein bedeutungsvolles Lorspiel bildet, hat in neuerer Zeit die Entwicklung des Freiheitsgedankens wieder an die natürliche Grundlage der besonderen Volkstümlichkeiten angeknüpft. Eingehend spricht sich Gervinus in der großen culturhistorischen Rundschau, die er diesem Bande vorausschickt, über die Entwickelungsgesetze der deutschen Nationalideen aus, über ihre mannigfachen Ablenkungen, über die Wechsel¬ wirkung zwischen geistiger und politischer Arbeit. In dieser geistvollen Erör¬ terung, wie in einigen gelegentlichen Bemerkungen über Zeitfragen, ist aber der Verfasser offenbar beeinflußt durch seine Parteistellung zu der neueren Entwicklung der deutschen Verhältnisse, mit deren Verlauf er wenig übereinstimmt. Seine Mißstimmung über den Gang der Schleswig-holsteinischen Frage tritt z. B. sehr scharf hervor in einer bittern Parallele zwischen Polignacs Expedition gegen Algier und der bismarckschen Politik in dem dänisch-deutschen Conflicte: eine Parallele, die, so blendend sie durchgeführt ist, doch nur dann richtig sein würde, wenn die Voraussetzung begründet wäre, daß die auswärtige Politik in den Augen des Grafen Bismarck nur ein Mittel wäre zur Durchführung einer rücksichts¬ losen Reactionspolitik im Innern : eine Anschauung, die gegenwärtig auch wohl unter den Gegnern dieses Staatsmannes wenig Anhänger finden wird. Ger¬ vinus geht in seiner Abneigung so weit, die Gleichgiltigkeit der Franzosen gegen die Erfolge der algierischen Expedition rühmend der Begeisterung des preußischen Volkes über die Waffenthaten in Schleswig gegenüber zu stellen. Die Sympathien von Gervinus für die Politik des Bundestags und der mit demselben eng allurten großdeutschen Demokratie erklärt sich z. Th. aus seiner sehr entschiedenen Abneigung gegen jede Wendung der deutschen Dinge, die unter Vernichtung der Kleinstaaten sich in der Richtung auf den Einheitsstaat bewegt. Gervinus ist zwar kein Vertheidiger der kleinstaatlichen Misere: er ist Grenzboten III. 18VK. 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/313>, abgerufen am 22.07.2024.