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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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Gemeinde, kein Eigenthum der einzelnen Glieder derselben an dem ihr gehörigen
Lande gab, wiederholte sich, als die einzelnen Gemeinden und Fürstentümer
sich zur Einheit zusammengeschlossen und sich ein gemeinsames Haupt gegeben
hatten, als Begriff vom Staate. Das Land, die heilige Russia, war, so glaubte
man, dem russischen Volke verliehen.worden, aber nur der Totalität desselben,
und wie im Kleinen der Stank, der Gemeindevater, den Boden periodisch unter
die Gemeindeglieder zur Benutzung vertheilte, so hatte im Großen der Czar,
der Volksvater, das Recht und die Pflicht, allen Grund und Boden nach seinem
durch nichts als sein Gewissen beschränkten Ermessen unter die einzelnen russischen
Gemeinden zu vertheilen -- eine Verkeilung, die wie bei der Ackertheilung inner¬
halb der Gemeinde, nur eine jeweilige, keine für immer giltige war, und nach der
auch die russischen Gemeinden kein Erbeigenthum an ihren Fluren besaßen.

Diese Grundanschauung des russischen Volkes ist im Auge zu behalten,
wenn man das innere Leben des russischen Staates verstehen will. Sicher,
daß westeuropäische Ideen unter der gebildeten Classe Eingang gefunden haben,
und daß der ganze Staatsmechanismus nach westeuropäischen Mustern einge¬
richtet ist; im niedern Volke, in der Mehrzahl der Russen also, leben jene
Ideen nicht, ja sie finden dort überall eine passive Opposition, die im Staro-
werzenthum eine mächtige Gliederung erhalten hat, und jene Grundanschauung
des Volkes, nach welcher der gesammte Grund und Boden der heiligen Russia
der Totalität der Russen, repräsentirt durch den Czaren, gehört und dieser allein
darüber frei zu disponiren hat. ist nichts blos factisch anerkannt, sondern auch
gesetzlich festgestellt. Kaum ein Drittel der Grundfläche des eigentlichen Ru߬
lands gehört dem Adel und nach der neuen Gesetzgebung den Gemeinden, mehr
als zwei Drittel sind Eigenthum der Krone. Die Bauern in den Krondörfern
besitzen ihre Dorfflur nicht, sie sitzen darauf lediglich als Nutznießer, so lange
der Czar will, ja sie hatten bis jetzt nicht einmal ein Pächterrecht, denn sie
zahlten bis vor Kurzem keinen Pacht, sondern nur eine Kopfsteuer. Jeden
Augenblick konnte der Czar der Gemeinde ihre ganze Feldmark entziehen, aber
er hatte die Pflicht, als Volksvater anderweit für ihre Ernährung zu sorgen.
Auch in dem unermeßlichen Sibirien ist die Krone alleinige Eigenthümerin von
Grund und Boden, und wenn dieselbe hier wie im ganzen Reiche viel Land
verschenkt und verkauft hat, so widerspricht das dem Principe nicht, sondern be¬
stätigt es vielmehr.

Einen Uradel hatte das russische Volk nicht, sondern erst aus den Warägern,
welche als Dienstmannen und Hofleute Ruriks und seines Stammes in das
Land gekommen waren, und denen sich die patriarchalen Stammhäupter der
Slaworussen anschlössen, bildete sich allmälig eine Art Adel, der aber kein Volks¬
und Landadel, sondern nur ein Dienstadel war und keinen erblichen Landbesitz
hatte. Dieser Adel diente dem Czaren als Krieger und Beamter, und der


Gemeinde, kein Eigenthum der einzelnen Glieder derselben an dem ihr gehörigen
Lande gab, wiederholte sich, als die einzelnen Gemeinden und Fürstentümer
sich zur Einheit zusammengeschlossen und sich ein gemeinsames Haupt gegeben
hatten, als Begriff vom Staate. Das Land, die heilige Russia, war, so glaubte
man, dem russischen Volke verliehen.worden, aber nur der Totalität desselben,
und wie im Kleinen der Stank, der Gemeindevater, den Boden periodisch unter
die Gemeindeglieder zur Benutzung vertheilte, so hatte im Großen der Czar,
der Volksvater, das Recht und die Pflicht, allen Grund und Boden nach seinem
durch nichts als sein Gewissen beschränkten Ermessen unter die einzelnen russischen
Gemeinden zu vertheilen — eine Verkeilung, die wie bei der Ackertheilung inner¬
halb der Gemeinde, nur eine jeweilige, keine für immer giltige war, und nach der
auch die russischen Gemeinden kein Erbeigenthum an ihren Fluren besaßen.

Diese Grundanschauung des russischen Volkes ist im Auge zu behalten,
wenn man das innere Leben des russischen Staates verstehen will. Sicher,
daß westeuropäische Ideen unter der gebildeten Classe Eingang gefunden haben,
und daß der ganze Staatsmechanismus nach westeuropäischen Mustern einge¬
richtet ist; im niedern Volke, in der Mehrzahl der Russen also, leben jene
Ideen nicht, ja sie finden dort überall eine passive Opposition, die im Staro-
werzenthum eine mächtige Gliederung erhalten hat, und jene Grundanschauung
des Volkes, nach welcher der gesammte Grund und Boden der heiligen Russia
der Totalität der Russen, repräsentirt durch den Czaren, gehört und dieser allein
darüber frei zu disponiren hat. ist nichts blos factisch anerkannt, sondern auch
gesetzlich festgestellt. Kaum ein Drittel der Grundfläche des eigentlichen Ru߬
lands gehört dem Adel und nach der neuen Gesetzgebung den Gemeinden, mehr
als zwei Drittel sind Eigenthum der Krone. Die Bauern in den Krondörfern
besitzen ihre Dorfflur nicht, sie sitzen darauf lediglich als Nutznießer, so lange
der Czar will, ja sie hatten bis jetzt nicht einmal ein Pächterrecht, denn sie
zahlten bis vor Kurzem keinen Pacht, sondern nur eine Kopfsteuer. Jeden
Augenblick konnte der Czar der Gemeinde ihre ganze Feldmark entziehen, aber
er hatte die Pflicht, als Volksvater anderweit für ihre Ernährung zu sorgen.
Auch in dem unermeßlichen Sibirien ist die Krone alleinige Eigenthümerin von
Grund und Boden, und wenn dieselbe hier wie im ganzen Reiche viel Land
verschenkt und verkauft hat, so widerspricht das dem Principe nicht, sondern be¬
stätigt es vielmehr.

Einen Uradel hatte das russische Volk nicht, sondern erst aus den Warägern,
welche als Dienstmannen und Hofleute Ruriks und seines Stammes in das
Land gekommen waren, und denen sich die patriarchalen Stammhäupter der
Slaworussen anschlössen, bildete sich allmälig eine Art Adel, der aber kein Volks¬
und Landadel, sondern nur ein Dienstadel war und keinen erblichen Landbesitz
hatte. Dieser Adel diente dem Czaren als Krieger und Beamter, und der


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[0248] Gemeinde, kein Eigenthum der einzelnen Glieder derselben an dem ihr gehörigen Lande gab, wiederholte sich, als die einzelnen Gemeinden und Fürstentümer sich zur Einheit zusammengeschlossen und sich ein gemeinsames Haupt gegeben hatten, als Begriff vom Staate. Das Land, die heilige Russia, war, so glaubte man, dem russischen Volke verliehen.worden, aber nur der Totalität desselben, und wie im Kleinen der Stank, der Gemeindevater, den Boden periodisch unter die Gemeindeglieder zur Benutzung vertheilte, so hatte im Großen der Czar, der Volksvater, das Recht und die Pflicht, allen Grund und Boden nach seinem durch nichts als sein Gewissen beschränkten Ermessen unter die einzelnen russischen Gemeinden zu vertheilen — eine Verkeilung, die wie bei der Ackertheilung inner¬ halb der Gemeinde, nur eine jeweilige, keine für immer giltige war, und nach der auch die russischen Gemeinden kein Erbeigenthum an ihren Fluren besaßen. Diese Grundanschauung des russischen Volkes ist im Auge zu behalten, wenn man das innere Leben des russischen Staates verstehen will. Sicher, daß westeuropäische Ideen unter der gebildeten Classe Eingang gefunden haben, und daß der ganze Staatsmechanismus nach westeuropäischen Mustern einge¬ richtet ist; im niedern Volke, in der Mehrzahl der Russen also, leben jene Ideen nicht, ja sie finden dort überall eine passive Opposition, die im Staro- werzenthum eine mächtige Gliederung erhalten hat, und jene Grundanschauung des Volkes, nach welcher der gesammte Grund und Boden der heiligen Russia der Totalität der Russen, repräsentirt durch den Czaren, gehört und dieser allein darüber frei zu disponiren hat. ist nichts blos factisch anerkannt, sondern auch gesetzlich festgestellt. Kaum ein Drittel der Grundfläche des eigentlichen Ru߬ lands gehört dem Adel und nach der neuen Gesetzgebung den Gemeinden, mehr als zwei Drittel sind Eigenthum der Krone. Die Bauern in den Krondörfern besitzen ihre Dorfflur nicht, sie sitzen darauf lediglich als Nutznießer, so lange der Czar will, ja sie hatten bis jetzt nicht einmal ein Pächterrecht, denn sie zahlten bis vor Kurzem keinen Pacht, sondern nur eine Kopfsteuer. Jeden Augenblick konnte der Czar der Gemeinde ihre ganze Feldmark entziehen, aber er hatte die Pflicht, als Volksvater anderweit für ihre Ernährung zu sorgen. Auch in dem unermeßlichen Sibirien ist die Krone alleinige Eigenthümerin von Grund und Boden, und wenn dieselbe hier wie im ganzen Reiche viel Land verschenkt und verkauft hat, so widerspricht das dem Principe nicht, sondern be¬ stätigt es vielmehr. Einen Uradel hatte das russische Volk nicht, sondern erst aus den Warägern, welche als Dienstmannen und Hofleute Ruriks und seines Stammes in das Land gekommen waren, und denen sich die patriarchalen Stammhäupter der Slaworussen anschlössen, bildete sich allmälig eine Art Adel, der aber kein Volks¬ und Landadel, sondern nur ein Dienstadel war und keinen erblichen Landbesitz hatte. Dieser Adel diente dem Czaren als Krieger und Beamter, und der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/248>, abgerufen am 22.07.2024.