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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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Ernte kommt jetzt allerdings in Nußland nirgends mehr vor, aber die Feld¬
marken der Dörfer sind Gemeingut der Bauerschaften und werden nach Verlauf
einer Reihe von Jahren unter die Glieder der letzteren zu jeweiliger Benutzung
neu repartirt. Daß sich bei solcher Einrichtung bei dem Großrussen wie keine
Anhänglichkeit an die von ihm bebaute Scholle, so auch keine Liebe zum Hei-
mathsdorfe entwickeln kann, liegt auf der Hand. Es ist dies aber kein Mangel
für das große Ganze, sondern eher ein Vortheil: weil das Volk kein Heimaths-
gefühl besitzt, so ist die Kolonisation im Innern des weiten Reichs ungemein
erleichtert. Es bat sehr wenig Schwierigkeit, sämmtliche Bewohner eines Dorfes
unter einigermaßen günstigen Bedingungen zu vermögen, ihren Geburtsort zu
verlassen und sich hundert und mehr Meilen weit davon neu anzusiedeln. Wie
wichtig dies für ein Land ist, wo Tausende von Quadratmeilen guten Bodens
noch der Bebauung harren, bedarf keiner Auseinandersetzung.

Anders der Kleinrusse, der lange nicht so wandersüchtig wie der in Menge
zwischen Archangel und Odessa herumstreifende Großrusse ist, und welchem die
Gesammtbenutzung der Dorfflur ursprünglich durchaus fremd war. Als das
Land des Kleinrussen von Polen abgerissen wurde, um mit Moskovien vereinigt
zu werden, war dort das erbliche Privateigenthum unter allen Ständen stark
ausgebildet, und als infolge der Gesetzgebung Peters des Großen und seiner
nächsten Nachfolger die großrussische Form der Leibeigenschaft auch hier ein¬
geführt wurde, bewahrten die Bauern sorgfältig alle Documente, die sich auf
ihren Grundbesitz bezogen. Nur selten wagten die neuen adeligen Grundherren,
so viel Macht sie auch sonst besaßen, eine neue Vertheilung der Felder, und wo
dies geschah, leisteten die Bauern den heftigsten Widerstand. Die Gemeinde
selbst dachte nicht an derartige Vertheilung, und das Princip der Erblichkeit
des Grundeigentums blieb aufrecht erhalten. Es existiren daher in Kleinru߬
land ganz ebenso wie in Deutschland Bauern von sehr verschiedenem Boden¬
besitz: Vollbauern mit Gespann, Halbbauern. Häusler u. s. w., während in den
großrussischen Dörfern jedes Glied der Gemeinde gleichen Antheil an den von
derselben benutzten Aeckern, Wiesen, Waldstücken u. s. w. hat. Jene Erblichkeit
der Grundstücke und jener vollständige Ausschluß gemeinschaftlicher Benutzung
der Dorfmark entspricht dem Charakter der Kleinrussen, in welchem das Streben
mach individueller Geltung und persönlicher Freiheit stark ausgeprägt ist, wo¬
gegen der Großrusse stets bereit war. einen Theil seiner Freiheit und Selb¬
ständigkeit der Idee der Association zu opfern -- ein Unterschied, welcher
bewirkte, daß die großrussischen Gemeinden allmälig zu einem Großstaat zu¬
sammenschmolzen, die Kleinrussen dagegen, so lange nicht Gewalt gegen sie
gebraucht wurde, es zu keinem Staat brachten, sondern in demokratischen
Kosakenthum. der stärksten Form des Individualismus, dahin lebten.

Die großrussische Idee, nach welcher es nur ein Gesammteigenthum der


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Ernte kommt jetzt allerdings in Nußland nirgends mehr vor, aber die Feld¬
marken der Dörfer sind Gemeingut der Bauerschaften und werden nach Verlauf
einer Reihe von Jahren unter die Glieder der letzteren zu jeweiliger Benutzung
neu repartirt. Daß sich bei solcher Einrichtung bei dem Großrussen wie keine
Anhänglichkeit an die von ihm bebaute Scholle, so auch keine Liebe zum Hei-
mathsdorfe entwickeln kann, liegt auf der Hand. Es ist dies aber kein Mangel
für das große Ganze, sondern eher ein Vortheil: weil das Volk kein Heimaths-
gefühl besitzt, so ist die Kolonisation im Innern des weiten Reichs ungemein
erleichtert. Es bat sehr wenig Schwierigkeit, sämmtliche Bewohner eines Dorfes
unter einigermaßen günstigen Bedingungen zu vermögen, ihren Geburtsort zu
verlassen und sich hundert und mehr Meilen weit davon neu anzusiedeln. Wie
wichtig dies für ein Land ist, wo Tausende von Quadratmeilen guten Bodens
noch der Bebauung harren, bedarf keiner Auseinandersetzung.

Anders der Kleinrusse, der lange nicht so wandersüchtig wie der in Menge
zwischen Archangel und Odessa herumstreifende Großrusse ist, und welchem die
Gesammtbenutzung der Dorfflur ursprünglich durchaus fremd war. Als das
Land des Kleinrussen von Polen abgerissen wurde, um mit Moskovien vereinigt
zu werden, war dort das erbliche Privateigenthum unter allen Ständen stark
ausgebildet, und als infolge der Gesetzgebung Peters des Großen und seiner
nächsten Nachfolger die großrussische Form der Leibeigenschaft auch hier ein¬
geführt wurde, bewahrten die Bauern sorgfältig alle Documente, die sich auf
ihren Grundbesitz bezogen. Nur selten wagten die neuen adeligen Grundherren,
so viel Macht sie auch sonst besaßen, eine neue Vertheilung der Felder, und wo
dies geschah, leisteten die Bauern den heftigsten Widerstand. Die Gemeinde
selbst dachte nicht an derartige Vertheilung, und das Princip der Erblichkeit
des Grundeigentums blieb aufrecht erhalten. Es existiren daher in Kleinru߬
land ganz ebenso wie in Deutschland Bauern von sehr verschiedenem Boden¬
besitz: Vollbauern mit Gespann, Halbbauern. Häusler u. s. w., während in den
großrussischen Dörfern jedes Glied der Gemeinde gleichen Antheil an den von
derselben benutzten Aeckern, Wiesen, Waldstücken u. s. w. hat. Jene Erblichkeit
der Grundstücke und jener vollständige Ausschluß gemeinschaftlicher Benutzung
der Dorfmark entspricht dem Charakter der Kleinrussen, in welchem das Streben
mach individueller Geltung und persönlicher Freiheit stark ausgeprägt ist, wo¬
gegen der Großrusse stets bereit war. einen Theil seiner Freiheit und Selb¬
ständigkeit der Idee der Association zu opfern — ein Unterschied, welcher
bewirkte, daß die großrussischen Gemeinden allmälig zu einem Großstaat zu¬
sammenschmolzen, die Kleinrussen dagegen, so lange nicht Gewalt gegen sie
gebraucht wurde, es zu keinem Staat brachten, sondern in demokratischen
Kosakenthum. der stärksten Form des Individualismus, dahin lebten.

Die großrussische Idee, nach welcher es nur ein Gesammteigenthum der


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[0247] Ernte kommt jetzt allerdings in Nußland nirgends mehr vor, aber die Feld¬ marken der Dörfer sind Gemeingut der Bauerschaften und werden nach Verlauf einer Reihe von Jahren unter die Glieder der letzteren zu jeweiliger Benutzung neu repartirt. Daß sich bei solcher Einrichtung bei dem Großrussen wie keine Anhänglichkeit an die von ihm bebaute Scholle, so auch keine Liebe zum Hei- mathsdorfe entwickeln kann, liegt auf der Hand. Es ist dies aber kein Mangel für das große Ganze, sondern eher ein Vortheil: weil das Volk kein Heimaths- gefühl besitzt, so ist die Kolonisation im Innern des weiten Reichs ungemein erleichtert. Es bat sehr wenig Schwierigkeit, sämmtliche Bewohner eines Dorfes unter einigermaßen günstigen Bedingungen zu vermögen, ihren Geburtsort zu verlassen und sich hundert und mehr Meilen weit davon neu anzusiedeln. Wie wichtig dies für ein Land ist, wo Tausende von Quadratmeilen guten Bodens noch der Bebauung harren, bedarf keiner Auseinandersetzung. Anders der Kleinrusse, der lange nicht so wandersüchtig wie der in Menge zwischen Archangel und Odessa herumstreifende Großrusse ist, und welchem die Gesammtbenutzung der Dorfflur ursprünglich durchaus fremd war. Als das Land des Kleinrussen von Polen abgerissen wurde, um mit Moskovien vereinigt zu werden, war dort das erbliche Privateigenthum unter allen Ständen stark ausgebildet, und als infolge der Gesetzgebung Peters des Großen und seiner nächsten Nachfolger die großrussische Form der Leibeigenschaft auch hier ein¬ geführt wurde, bewahrten die Bauern sorgfältig alle Documente, die sich auf ihren Grundbesitz bezogen. Nur selten wagten die neuen adeligen Grundherren, so viel Macht sie auch sonst besaßen, eine neue Vertheilung der Felder, und wo dies geschah, leisteten die Bauern den heftigsten Widerstand. Die Gemeinde selbst dachte nicht an derartige Vertheilung, und das Princip der Erblichkeit des Grundeigentums blieb aufrecht erhalten. Es existiren daher in Kleinru߬ land ganz ebenso wie in Deutschland Bauern von sehr verschiedenem Boden¬ besitz: Vollbauern mit Gespann, Halbbauern. Häusler u. s. w., während in den großrussischen Dörfern jedes Glied der Gemeinde gleichen Antheil an den von derselben benutzten Aeckern, Wiesen, Waldstücken u. s. w. hat. Jene Erblichkeit der Grundstücke und jener vollständige Ausschluß gemeinschaftlicher Benutzung der Dorfmark entspricht dem Charakter der Kleinrussen, in welchem das Streben mach individueller Geltung und persönlicher Freiheit stark ausgeprägt ist, wo¬ gegen der Großrusse stets bereit war. einen Theil seiner Freiheit und Selb¬ ständigkeit der Idee der Association zu opfern — ein Unterschied, welcher bewirkte, daß die großrussischen Gemeinden allmälig zu einem Großstaat zu¬ sammenschmolzen, die Kleinrussen dagegen, so lange nicht Gewalt gegen sie gebraucht wurde, es zu keinem Staat brachten, sondern in demokratischen Kosakenthum. der stärksten Form des Individualismus, dahin lebten. Die großrussische Idee, nach welcher es nur ein Gesammteigenthum der 29'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/247>, abgerufen am 22.07.2024.