Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

russen, von denen die letzteren, schon weil sie der stärkere Stamm sind, dem
altrussischen Staate seinen Charakter gegeben haben. Zu den Eigenthümlich¬
keiten des Großrussen gehört vor allem ein stark ausgeprägter nomadischer Zug.
Er besitzt außerordentliche Vaterlandsliebe, tiefe Verehrung vor dem großen
"heiligen" Rußland und eine lebhafte Empfindung von der brüderlichen Zu¬
sammengehörigkeit aller Stammgenossen, aber sehr wenig Anhänglichkeit an die
Stelle, auf der er geboren ist, sehr wenig Heimathsgefühl. Die Scholle, auf
der er lebt, ist ihm gleichgiltig, er thut nichts für deren Verbesserung und Ver¬
schönerung, und er ist im Zusammenhang damit ein wenig sorgfältiger Acker¬
bauer. In der Nord- und Mittelzone des Landes betreibt man die Landwirth¬
schaft fast nur des nächsten Hausbedarfs halber, und von fleißigem Anbau des
Bodens, von Studium und Fortschritt ist nicht die Rede. Die Geräthschaften,
mit denen das Land bestellt wird, sino dieselben, welche die Urgroßväter benutz¬
ten. Das Zugvieh trägt denselben Charakter wie sein Herr, es ist das leichte
Steppenpferd, unermüdlich als Reitthier, aber verdrossen und leicht ermattend
vor dem Pfluge. Nur der Umstand, daß der Bauer baares Geld zur Entrich¬
tung seiner Abgaben braucht, erhält ihn bei der Arbeit des Säens und Erntens
und bewegt ihn, mehr zu bauen, als er für seine Wirthschaft braucht. Kann
der Großrusse aber auf andere Weise, als Handwerker, Fabrikarbeiter oder Hau-
sirer Geld verdienen, so beschränkt er gewiß seine Thätigkeit als Ackersmann
auf das eigne Bedürfniß,

Auf den ungeheuren Landstrichen der "schwarzen Erde" (zwischen Tscherni-
gow und Pultawa, Kursk und Charkow, Tambow und Woronesch, Persa und
Saratow) giebt es für den Bauer wenig Gelegenheit, als Händler oder Hand¬
werker thätig zu sein, und so muß hier der Ackerbau fast allein das Geld für
den Steuereinnehmer liefern. Aber sorgfältige Pflege wird dem Boden auch
hier nicht zugewandt, da er ohne dieselbe reiche Ernten erzeugt. Ja grade hier
und im Norden der südrussischen Steppenregion kommt häufig ein ganz noma¬
discher Ackerbau vor. indem Kaufleute aus den Städten im Frühjahr oder
Herbst mit Leuten und Gespannen meilenweit auf das Land hinausziehen, wel¬
ches sie von den Eigenthümern, meist entfernt wohnenden Adeligen, für wenige
Kopeken gepachtet haben, es mit Früchten bestellen und sich dann bis zur Ernte
wieder nach Hause begeben.

Ein getreuer Ausdruck dieser Charakterzüge des Großrussen ist seine Ge¬
meindeverfassung, welche den G-esammtbesitz und die Gesammtbenutzung des
Grund und Bodens zum Princip hat. Die großrussische Gemeinde ist das
stehen gebliebene Zelt eines Wandervolkes, in welchem zwar allmälig mehre
Familien zu separaten Leben sich ausbildeten, aber immer unter dem Stamm¬
haupte, welches die Arbeiten des gemeinsamen Feldbaues anordnete und die
Früchte desselben unter alle gleichmäßig vertheilte. Eine solche Theilung der


russen, von denen die letzteren, schon weil sie der stärkere Stamm sind, dem
altrussischen Staate seinen Charakter gegeben haben. Zu den Eigenthümlich¬
keiten des Großrussen gehört vor allem ein stark ausgeprägter nomadischer Zug.
Er besitzt außerordentliche Vaterlandsliebe, tiefe Verehrung vor dem großen
„heiligen" Rußland und eine lebhafte Empfindung von der brüderlichen Zu¬
sammengehörigkeit aller Stammgenossen, aber sehr wenig Anhänglichkeit an die
Stelle, auf der er geboren ist, sehr wenig Heimathsgefühl. Die Scholle, auf
der er lebt, ist ihm gleichgiltig, er thut nichts für deren Verbesserung und Ver¬
schönerung, und er ist im Zusammenhang damit ein wenig sorgfältiger Acker¬
bauer. In der Nord- und Mittelzone des Landes betreibt man die Landwirth¬
schaft fast nur des nächsten Hausbedarfs halber, und von fleißigem Anbau des
Bodens, von Studium und Fortschritt ist nicht die Rede. Die Geräthschaften,
mit denen das Land bestellt wird, sino dieselben, welche die Urgroßväter benutz¬
ten. Das Zugvieh trägt denselben Charakter wie sein Herr, es ist das leichte
Steppenpferd, unermüdlich als Reitthier, aber verdrossen und leicht ermattend
vor dem Pfluge. Nur der Umstand, daß der Bauer baares Geld zur Entrich¬
tung seiner Abgaben braucht, erhält ihn bei der Arbeit des Säens und Erntens
und bewegt ihn, mehr zu bauen, als er für seine Wirthschaft braucht. Kann
der Großrusse aber auf andere Weise, als Handwerker, Fabrikarbeiter oder Hau-
sirer Geld verdienen, so beschränkt er gewiß seine Thätigkeit als Ackersmann
auf das eigne Bedürfniß,

Auf den ungeheuren Landstrichen der „schwarzen Erde" (zwischen Tscherni-
gow und Pultawa, Kursk und Charkow, Tambow und Woronesch, Persa und
Saratow) giebt es für den Bauer wenig Gelegenheit, als Händler oder Hand¬
werker thätig zu sein, und so muß hier der Ackerbau fast allein das Geld für
den Steuereinnehmer liefern. Aber sorgfältige Pflege wird dem Boden auch
hier nicht zugewandt, da er ohne dieselbe reiche Ernten erzeugt. Ja grade hier
und im Norden der südrussischen Steppenregion kommt häufig ein ganz noma¬
discher Ackerbau vor. indem Kaufleute aus den Städten im Frühjahr oder
Herbst mit Leuten und Gespannen meilenweit auf das Land hinausziehen, wel¬
ches sie von den Eigenthümern, meist entfernt wohnenden Adeligen, für wenige
Kopeken gepachtet haben, es mit Früchten bestellen und sich dann bis zur Ernte
wieder nach Hause begeben.

Ein getreuer Ausdruck dieser Charakterzüge des Großrussen ist seine Ge¬
meindeverfassung, welche den G-esammtbesitz und die Gesammtbenutzung des
Grund und Bodens zum Princip hat. Die großrussische Gemeinde ist das
stehen gebliebene Zelt eines Wandervolkes, in welchem zwar allmälig mehre
Familien zu separaten Leben sich ausbildeten, aber immer unter dem Stamm¬
haupte, welches die Arbeiten des gemeinsamen Feldbaues anordnete und die
Früchte desselben unter alle gleichmäßig vertheilte. Eine solche Theilung der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0246" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/285834"/>
          <p xml:id="ID_738" prev="#ID_737"> russen, von denen die letzteren, schon weil sie der stärkere Stamm sind, dem<lb/>
altrussischen Staate seinen Charakter gegeben haben. Zu den Eigenthümlich¬<lb/>
keiten des Großrussen gehört vor allem ein stark ausgeprägter nomadischer Zug.<lb/>
Er besitzt außerordentliche Vaterlandsliebe, tiefe Verehrung vor dem großen<lb/>
&#x201E;heiligen" Rußland und eine lebhafte Empfindung von der brüderlichen Zu¬<lb/>
sammengehörigkeit aller Stammgenossen, aber sehr wenig Anhänglichkeit an die<lb/>
Stelle, auf der er geboren ist, sehr wenig Heimathsgefühl. Die Scholle, auf<lb/>
der er lebt, ist ihm gleichgiltig, er thut nichts für deren Verbesserung und Ver¬<lb/>
schönerung, und er ist im Zusammenhang damit ein wenig sorgfältiger Acker¬<lb/>
bauer. In der Nord- und Mittelzone des Landes betreibt man die Landwirth¬<lb/>
schaft fast nur des nächsten Hausbedarfs halber, und von fleißigem Anbau des<lb/>
Bodens, von Studium und Fortschritt ist nicht die Rede. Die Geräthschaften,<lb/>
mit denen das Land bestellt wird, sino dieselben, welche die Urgroßväter benutz¬<lb/>
ten. Das Zugvieh trägt denselben Charakter wie sein Herr, es ist das leichte<lb/>
Steppenpferd, unermüdlich als Reitthier, aber verdrossen und leicht ermattend<lb/>
vor dem Pfluge. Nur der Umstand, daß der Bauer baares Geld zur Entrich¬<lb/>
tung seiner Abgaben braucht, erhält ihn bei der Arbeit des Säens und Erntens<lb/>
und bewegt ihn, mehr zu bauen, als er für seine Wirthschaft braucht. Kann<lb/>
der Großrusse aber auf andere Weise, als Handwerker, Fabrikarbeiter oder Hau-<lb/>
sirer Geld verdienen, so beschränkt er gewiß seine Thätigkeit als Ackersmann<lb/>
auf das eigne Bedürfniß,</p><lb/>
          <p xml:id="ID_739"> Auf den ungeheuren Landstrichen der &#x201E;schwarzen Erde" (zwischen Tscherni-<lb/>
gow und Pultawa, Kursk und Charkow, Tambow und Woronesch, Persa und<lb/>
Saratow) giebt es für den Bauer wenig Gelegenheit, als Händler oder Hand¬<lb/>
werker thätig zu sein, und so muß hier der Ackerbau fast allein das Geld für<lb/>
den Steuereinnehmer liefern. Aber sorgfältige Pflege wird dem Boden auch<lb/>
hier nicht zugewandt, da er ohne dieselbe reiche Ernten erzeugt. Ja grade hier<lb/>
und im Norden der südrussischen Steppenregion kommt häufig ein ganz noma¬<lb/>
discher Ackerbau vor. indem Kaufleute aus den Städten im Frühjahr oder<lb/>
Herbst mit Leuten und Gespannen meilenweit auf das Land hinausziehen, wel¬<lb/>
ches sie von den Eigenthümern, meist entfernt wohnenden Adeligen, für wenige<lb/>
Kopeken gepachtet haben, es mit Früchten bestellen und sich dann bis zur Ernte<lb/>
wieder nach Hause begeben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_740" next="#ID_741"> Ein getreuer Ausdruck dieser Charakterzüge des Großrussen ist seine Ge¬<lb/>
meindeverfassung, welche den G-esammtbesitz und die Gesammtbenutzung des<lb/>
Grund und Bodens zum Princip hat. Die großrussische Gemeinde ist das<lb/>
stehen gebliebene Zelt eines Wandervolkes, in welchem zwar allmälig mehre<lb/>
Familien zu separaten Leben sich ausbildeten, aber immer unter dem Stamm¬<lb/>
haupte, welches die Arbeiten des gemeinsamen Feldbaues anordnete und die<lb/>
Früchte desselben unter alle gleichmäßig vertheilte. Eine solche Theilung der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0246] russen, von denen die letzteren, schon weil sie der stärkere Stamm sind, dem altrussischen Staate seinen Charakter gegeben haben. Zu den Eigenthümlich¬ keiten des Großrussen gehört vor allem ein stark ausgeprägter nomadischer Zug. Er besitzt außerordentliche Vaterlandsliebe, tiefe Verehrung vor dem großen „heiligen" Rußland und eine lebhafte Empfindung von der brüderlichen Zu¬ sammengehörigkeit aller Stammgenossen, aber sehr wenig Anhänglichkeit an die Stelle, auf der er geboren ist, sehr wenig Heimathsgefühl. Die Scholle, auf der er lebt, ist ihm gleichgiltig, er thut nichts für deren Verbesserung und Ver¬ schönerung, und er ist im Zusammenhang damit ein wenig sorgfältiger Acker¬ bauer. In der Nord- und Mittelzone des Landes betreibt man die Landwirth¬ schaft fast nur des nächsten Hausbedarfs halber, und von fleißigem Anbau des Bodens, von Studium und Fortschritt ist nicht die Rede. Die Geräthschaften, mit denen das Land bestellt wird, sino dieselben, welche die Urgroßväter benutz¬ ten. Das Zugvieh trägt denselben Charakter wie sein Herr, es ist das leichte Steppenpferd, unermüdlich als Reitthier, aber verdrossen und leicht ermattend vor dem Pfluge. Nur der Umstand, daß der Bauer baares Geld zur Entrich¬ tung seiner Abgaben braucht, erhält ihn bei der Arbeit des Säens und Erntens und bewegt ihn, mehr zu bauen, als er für seine Wirthschaft braucht. Kann der Großrusse aber auf andere Weise, als Handwerker, Fabrikarbeiter oder Hau- sirer Geld verdienen, so beschränkt er gewiß seine Thätigkeit als Ackersmann auf das eigne Bedürfniß, Auf den ungeheuren Landstrichen der „schwarzen Erde" (zwischen Tscherni- gow und Pultawa, Kursk und Charkow, Tambow und Woronesch, Persa und Saratow) giebt es für den Bauer wenig Gelegenheit, als Händler oder Hand¬ werker thätig zu sein, und so muß hier der Ackerbau fast allein das Geld für den Steuereinnehmer liefern. Aber sorgfältige Pflege wird dem Boden auch hier nicht zugewandt, da er ohne dieselbe reiche Ernten erzeugt. Ja grade hier und im Norden der südrussischen Steppenregion kommt häufig ein ganz noma¬ discher Ackerbau vor. indem Kaufleute aus den Städten im Frühjahr oder Herbst mit Leuten und Gespannen meilenweit auf das Land hinausziehen, wel¬ ches sie von den Eigenthümern, meist entfernt wohnenden Adeligen, für wenige Kopeken gepachtet haben, es mit Früchten bestellen und sich dann bis zur Ernte wieder nach Hause begeben. Ein getreuer Ausdruck dieser Charakterzüge des Großrussen ist seine Ge¬ meindeverfassung, welche den G-esammtbesitz und die Gesammtbenutzung des Grund und Bodens zum Princip hat. Die großrussische Gemeinde ist das stehen gebliebene Zelt eines Wandervolkes, in welchem zwar allmälig mehre Familien zu separaten Leben sich ausbildeten, aber immer unter dem Stamm¬ haupte, welches die Arbeiten des gemeinsamen Feldbaues anordnete und die Früchte desselben unter alle gleichmäßig vertheilte. Eine solche Theilung der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/246
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/246>, abgerufen am 22.07.2024.