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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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neuen europäischen Ordnung gefunden. Die Absicht, Genua mit den sardinischen
Staaten zu vereinigen, herrsche vor, doch sei noch nichts endgiltig beschlossen,
und man möge in Wien noch einen letzten Versuch machen.

'Nach Wien wurde der Marchese Brignole-Sale als Bevollmächtigter ge¬
schickt. Seine Jnstructionen lauteten in erster Linie wieder auf absolute Un¬
abhängigkeit des Staats und Erhaltung der republikanischen Regierungsform.
Würde die Republik auf unbesteglichen Widerstand stoßen, so sollte der Gesandte
seine Forderungen auf die Erhaltung der politischen und territorialen Unab¬
hängigkeit beschränken und einen auswärtigen Prinzen, etwa aus östreichischen
Blut, zum Souverän verlangen. Wäre dies alles nicht zu erlangen, so solle
er sich zu dem schmerzlichen Angebot herbeilassen, dem König von Sardinien
den Theil der ligurischen Küste von San Remo bis Mentone abzutreten und
dagegen die republikanische Unabhängigkeit von Genua verlangen. Würde end¬
lich die Nothwendigkeit das harte Opfer auferlegen, ganz in die Votmäßigkeit
des Königs von Sardinien zu kommen, so solle der Bevollmächtigte wenigstens
mit offenen, entschlossenen und gewichtigen Gründen Trennung der Administrativ-
einrichtungen, der Finanzen und der Gerichte und die Zusicherung, daß die
öffentlichen Beamten in Ligurien nur mit Ligurern besetzt würden, verlangen.

Brignole-Sale kam Anfang Septembers in Wien an und wandte sich sofort
an England und Oestreich, auch bei Spanien und Frankreich klopfte er an.
Im October richtete er an die Bevollmächtigten der Verbündeten eine ausführ¬
liche Denkschrift, die in mehrfacher Beziehung interessant ist. Im Eingang
wurden die Gründe der Billigkeit und des Völkerrechts angerufen, welche ge¬
bieten, daß Genua wieder in den Stand vor der französischen Revolution ein¬
gesetzt werde. Unmöglich könne man Genua als erobertes Land betrachten;
denn die legitime Negierung sei nur der Gewalt gewichen und habe ihre Legi¬
timität nicht eingebüßt. Dazu kommen noch Gründe des allgemeinen Interesses,
welche fordern, daß ein Zustand geschaffen werde, der geeignet sei, die Ruhe
aller zu erhalten und der Wiederkehr der Uebel, die im Gefolge des Geistes
der Eroberung, vorzubeugen; aber grade diesem Zweck diene die Vereinigung
Genuas mit Piemont am wenigsten. Und nun folgt eine merkwürdige Stelle,
welche dem politischen Weitblick des Genuesen alle Ehre macht. Was. fährt er
fort, würde denn der König von Sardinien durch die Vereinigung Liguriens mit
seinen Besitzungen gewinnen? Er wäre allerdings stärker geworden, als er zuvor
war, aber er würde doch immer nur einen Staat zweiten Ranges besitzen, nicht
so schwach, daß seine Existenz von der Erhaltung des europäischen Gleichgewichts
abhinge. aber auch nicht stark genug, um für sich frei, unabhängig, befriedigt,
dem Wunsch nach ferneren Vergrößerungen entrückt zu existiren. Am Fuße der
Alpen gelegen, in Berührung mit jenen fruchtbareren Gegenden.Jtaliens, welche
gleichsam die Fortsetzung Piemonts bilden, könnte dieser Souverän der Ver-


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neuen europäischen Ordnung gefunden. Die Absicht, Genua mit den sardinischen
Staaten zu vereinigen, herrsche vor, doch sei noch nichts endgiltig beschlossen,
und man möge in Wien noch einen letzten Versuch machen.

'Nach Wien wurde der Marchese Brignole-Sale als Bevollmächtigter ge¬
schickt. Seine Jnstructionen lauteten in erster Linie wieder auf absolute Un¬
abhängigkeit des Staats und Erhaltung der republikanischen Regierungsform.
Würde die Republik auf unbesteglichen Widerstand stoßen, so sollte der Gesandte
seine Forderungen auf die Erhaltung der politischen und territorialen Unab¬
hängigkeit beschränken und einen auswärtigen Prinzen, etwa aus östreichischen
Blut, zum Souverän verlangen. Wäre dies alles nicht zu erlangen, so solle
er sich zu dem schmerzlichen Angebot herbeilassen, dem König von Sardinien
den Theil der ligurischen Küste von San Remo bis Mentone abzutreten und
dagegen die republikanische Unabhängigkeit von Genua verlangen. Würde end¬
lich die Nothwendigkeit das harte Opfer auferlegen, ganz in die Votmäßigkeit
des Königs von Sardinien zu kommen, so solle der Bevollmächtigte wenigstens
mit offenen, entschlossenen und gewichtigen Gründen Trennung der Administrativ-
einrichtungen, der Finanzen und der Gerichte und die Zusicherung, daß die
öffentlichen Beamten in Ligurien nur mit Ligurern besetzt würden, verlangen.

Brignole-Sale kam Anfang Septembers in Wien an und wandte sich sofort
an England und Oestreich, auch bei Spanien und Frankreich klopfte er an.
Im October richtete er an die Bevollmächtigten der Verbündeten eine ausführ¬
liche Denkschrift, die in mehrfacher Beziehung interessant ist. Im Eingang
wurden die Gründe der Billigkeit und des Völkerrechts angerufen, welche ge¬
bieten, daß Genua wieder in den Stand vor der französischen Revolution ein¬
gesetzt werde. Unmöglich könne man Genua als erobertes Land betrachten;
denn die legitime Negierung sei nur der Gewalt gewichen und habe ihre Legi¬
timität nicht eingebüßt. Dazu kommen noch Gründe des allgemeinen Interesses,
welche fordern, daß ein Zustand geschaffen werde, der geeignet sei, die Ruhe
aller zu erhalten und der Wiederkehr der Uebel, die im Gefolge des Geistes
der Eroberung, vorzubeugen; aber grade diesem Zweck diene die Vereinigung
Genuas mit Piemont am wenigsten. Und nun folgt eine merkwürdige Stelle,
welche dem politischen Weitblick des Genuesen alle Ehre macht. Was. fährt er
fort, würde denn der König von Sardinien durch die Vereinigung Liguriens mit
seinen Besitzungen gewinnen? Er wäre allerdings stärker geworden, als er zuvor
war, aber er würde doch immer nur einen Staat zweiten Ranges besitzen, nicht
so schwach, daß seine Existenz von der Erhaltung des europäischen Gleichgewichts
abhinge. aber auch nicht stark genug, um für sich frei, unabhängig, befriedigt,
dem Wunsch nach ferneren Vergrößerungen entrückt zu existiren. Am Fuße der
Alpen gelegen, in Berührung mit jenen fruchtbareren Gegenden.Jtaliens, welche
gleichsam die Fortsetzung Piemonts bilden, könnte dieser Souverän der Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/21>, abgerufen am 22.07.2024.