Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

8. Juli angefangen spielen die preußischen Schlappen und die östreichischen
Großthaten in den Zeitungen wieder eine große Rolle.

Der deutsche Sprachschatz ist durch die jüngsten Ereignisse um einen Begriff
ärmer geworden. Man kann nicht füglich mehr im Angesichte des Heroismus
der preußischen Soldaten vom berliner Schwindel reden. Wahrscheinlich wird
dieser Verlust ersetzt werden und eine andere Vorstellung in Deutschland volks-
thümlich werden: die wiener Verlogenheit.




Politische Flugschriften.

Preußen und seine Bedeutung für Deutschland (Hamburg, Otto Meißner. 18K6).
Kritik des preußischen Bundesrcformcntwurss vom 10. Juni 186K, vom Standpunkt
der nationalen Anforderung (Heidelberg, K. Groos).

Bezeichnend für den Ernst der gegenwärtigen Lage des Vaterlandes ist der
verhältnißmäßige Mangel an politischen Flugschriften. Wenn sonst bei hoch-
gehender See der Tagesgeschichte die Mahnrufe der Presse wie Möven das
Auf und Nieder der Ereignisse umschwirren. heute inmitten der größten Krisis,
die Deutschland seit fünfzig Jahren erlebt, werden nur ganz einzelne Stimmen
vernehmbar. Auch hierin zeigt sich zunächst, wie schnell wir heutzutage leben.
Für Feder und Druck ist es völlig unmöglich geworden, mit den Begebenheiten
nur annähernd Schritt zu halten; die Locomotive und der zeitspottende Draht
geben nicht blos der Schnelligkeit unserer Kunde von den Dingen, sondern wie
es scheint auch den Actionen selbst das Tempo an. Derselbe Zeitraum, der im
italienischen Kriege von 1859 zwischen der Schlacht von Solserino und dem
Waffenstillstand lag, genügte diesmal zur Entwickelung des Kampfes bis zu
seinem ersten Höhepunkte und bis zum Versuche des zweiten schmählicheren
Villafranca. Aber es fehlt nicht blos an Zeit, den Discussionen der Presse zu
folgen, die, während sie niedergeschrieben werden, fast schon veraltet sind; auch
die Gedantenproduction ist gehemmt durch die athembedrückcnde Rapidität der
Ereignisse. Jeder Tag gebiert neue Thatsachen; jede Thatsache tritt ins Be¬
wußtsein des Volkes als ein Ausgangspunkt umfassender Umgestaltungen, nicht
als vorübergehende Erscheinung, die morgen Vergangenheit ist, sondern mit der
Wucht des Principiellen und normativen.


8. Juli angefangen spielen die preußischen Schlappen und die östreichischen
Großthaten in den Zeitungen wieder eine große Rolle.

Der deutsche Sprachschatz ist durch die jüngsten Ereignisse um einen Begriff
ärmer geworden. Man kann nicht füglich mehr im Angesichte des Heroismus
der preußischen Soldaten vom berliner Schwindel reden. Wahrscheinlich wird
dieser Verlust ersetzt werden und eine andere Vorstellung in Deutschland volks-
thümlich werden: die wiener Verlogenheit.




Politische Flugschriften.

Preußen und seine Bedeutung für Deutschland (Hamburg, Otto Meißner. 18K6).
Kritik des preußischen Bundesrcformcntwurss vom 10. Juni 186K, vom Standpunkt
der nationalen Anforderung (Heidelberg, K. Groos).

Bezeichnend für den Ernst der gegenwärtigen Lage des Vaterlandes ist der
verhältnißmäßige Mangel an politischen Flugschriften. Wenn sonst bei hoch-
gehender See der Tagesgeschichte die Mahnrufe der Presse wie Möven das
Auf und Nieder der Ereignisse umschwirren. heute inmitten der größten Krisis,
die Deutschland seit fünfzig Jahren erlebt, werden nur ganz einzelne Stimmen
vernehmbar. Auch hierin zeigt sich zunächst, wie schnell wir heutzutage leben.
Für Feder und Druck ist es völlig unmöglich geworden, mit den Begebenheiten
nur annähernd Schritt zu halten; die Locomotive und der zeitspottende Draht
geben nicht blos der Schnelligkeit unserer Kunde von den Dingen, sondern wie
es scheint auch den Actionen selbst das Tempo an. Derselbe Zeitraum, der im
italienischen Kriege von 1859 zwischen der Schlacht von Solserino und dem
Waffenstillstand lag, genügte diesmal zur Entwickelung des Kampfes bis zu
seinem ersten Höhepunkte und bis zum Versuche des zweiten schmählicheren
Villafranca. Aber es fehlt nicht blos an Zeit, den Discussionen der Presse zu
folgen, die, während sie niedergeschrieben werden, fast schon veraltet sind; auch
die Gedantenproduction ist gehemmt durch die athembedrückcnde Rapidität der
Ereignisse. Jeder Tag gebiert neue Thatsachen; jede Thatsache tritt ins Be¬
wußtsein des Volkes als ein Ausgangspunkt umfassender Umgestaltungen, nicht
als vorübergehende Erscheinung, die morgen Vergangenheit ist, sondern mit der
Wucht des Principiellen und normativen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0199" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/285787"/>
          <p xml:id="ID_597" prev="#ID_596"> 8. Juli angefangen spielen die preußischen Schlappen und die östreichischen<lb/>
Großthaten in den Zeitungen wieder eine große Rolle.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_598"> Der deutsche Sprachschatz ist durch die jüngsten Ereignisse um einen Begriff<lb/>
ärmer geworden. Man kann nicht füglich mehr im Angesichte des Heroismus<lb/>
der preußischen Soldaten vom berliner Schwindel reden. Wahrscheinlich wird<lb/>
dieser Verlust ersetzt werden und eine andere Vorstellung in Deutschland volks-<lb/>
thümlich werden: die wiener Verlogenheit.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Politische Flugschriften.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_599"> Preußen und seine Bedeutung für Deutschland (Hamburg, Otto Meißner. 18K6).<lb/>
Kritik des preußischen Bundesrcformcntwurss vom 10. Juni 186K, vom Standpunkt<lb/>
der nationalen Anforderung (Heidelberg, K. Groos).</p><lb/>
          <p xml:id="ID_600"> Bezeichnend für den Ernst der gegenwärtigen Lage des Vaterlandes ist der<lb/>
verhältnißmäßige Mangel an politischen Flugschriften. Wenn sonst bei hoch-<lb/>
gehender See der Tagesgeschichte die Mahnrufe der Presse wie Möven das<lb/>
Auf und Nieder der Ereignisse umschwirren. heute inmitten der größten Krisis,<lb/>
die Deutschland seit fünfzig Jahren erlebt, werden nur ganz einzelne Stimmen<lb/>
vernehmbar. Auch hierin zeigt sich zunächst, wie schnell wir heutzutage leben.<lb/>
Für Feder und Druck ist es völlig unmöglich geworden, mit den Begebenheiten<lb/>
nur annähernd Schritt zu halten; die Locomotive und der zeitspottende Draht<lb/>
geben nicht blos der Schnelligkeit unserer Kunde von den Dingen, sondern wie<lb/>
es scheint auch den Actionen selbst das Tempo an. Derselbe Zeitraum, der im<lb/>
italienischen Kriege von 1859 zwischen der Schlacht von Solserino und dem<lb/>
Waffenstillstand lag, genügte diesmal zur Entwickelung des Kampfes bis zu<lb/>
seinem ersten Höhepunkte und bis zum Versuche des zweiten schmählicheren<lb/>
Villafranca. Aber es fehlt nicht blos an Zeit, den Discussionen der Presse zu<lb/>
folgen, die, während sie niedergeschrieben werden, fast schon veraltet sind; auch<lb/>
die Gedantenproduction ist gehemmt durch die athembedrückcnde Rapidität der<lb/>
Ereignisse. Jeder Tag gebiert neue Thatsachen; jede Thatsache tritt ins Be¬<lb/>
wußtsein des Volkes als ein Ausgangspunkt umfassender Umgestaltungen, nicht<lb/>
als vorübergehende Erscheinung, die morgen Vergangenheit ist, sondern mit der<lb/>
Wucht des Principiellen und normativen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0199] 8. Juli angefangen spielen die preußischen Schlappen und die östreichischen Großthaten in den Zeitungen wieder eine große Rolle. Der deutsche Sprachschatz ist durch die jüngsten Ereignisse um einen Begriff ärmer geworden. Man kann nicht füglich mehr im Angesichte des Heroismus der preußischen Soldaten vom berliner Schwindel reden. Wahrscheinlich wird dieser Verlust ersetzt werden und eine andere Vorstellung in Deutschland volks- thümlich werden: die wiener Verlogenheit. Politische Flugschriften. Preußen und seine Bedeutung für Deutschland (Hamburg, Otto Meißner. 18K6). Kritik des preußischen Bundesrcformcntwurss vom 10. Juni 186K, vom Standpunkt der nationalen Anforderung (Heidelberg, K. Groos). Bezeichnend für den Ernst der gegenwärtigen Lage des Vaterlandes ist der verhältnißmäßige Mangel an politischen Flugschriften. Wenn sonst bei hoch- gehender See der Tagesgeschichte die Mahnrufe der Presse wie Möven das Auf und Nieder der Ereignisse umschwirren. heute inmitten der größten Krisis, die Deutschland seit fünfzig Jahren erlebt, werden nur ganz einzelne Stimmen vernehmbar. Auch hierin zeigt sich zunächst, wie schnell wir heutzutage leben. Für Feder und Druck ist es völlig unmöglich geworden, mit den Begebenheiten nur annähernd Schritt zu halten; die Locomotive und der zeitspottende Draht geben nicht blos der Schnelligkeit unserer Kunde von den Dingen, sondern wie es scheint auch den Actionen selbst das Tempo an. Derselbe Zeitraum, der im italienischen Kriege von 1859 zwischen der Schlacht von Solserino und dem Waffenstillstand lag, genügte diesmal zur Entwickelung des Kampfes bis zu seinem ersten Höhepunkte und bis zum Versuche des zweiten schmählicheren Villafranca. Aber es fehlt nicht blos an Zeit, den Discussionen der Presse zu folgen, die, während sie niedergeschrieben werden, fast schon veraltet sind; auch die Gedantenproduction ist gehemmt durch die athembedrückcnde Rapidität der Ereignisse. Jeder Tag gebiert neue Thatsachen; jede Thatsache tritt ins Be¬ wußtsein des Volkes als ein Ausgangspunkt umfassender Umgestaltungen, nicht als vorübergehende Erscheinung, die morgen Vergangenheit ist, sondern mit der Wucht des Principiellen und normativen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/199
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/199>, abgerufen am 22.07.2024.