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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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großartiger zusammengefaßt ist, so erfreut hier dagegen die Menge von charak-
teuflischen Detailangaben, die aus der damaligen Literatur glücklich ausgespült
und zusammengestellt sind. Hier darf man sich des historischen Sinnes von
Renan erfreuen und bedauert es um, so lebhafter, daß ihm der kritische so ganz
abgeht. Nichts wäre verkehrter, als wenn man sich, durch die Anatheme der
Orthodoxen aller Bekenntnisse verführt. Renan als einen allzu verwegenen Kri¬
tiker, der das Kind mit dem Bade ausschüttet, vorstellen wollte. Das Gegen-
theil ist der Fall, grade die Kritik ist seine schwache Seite. Bei jedem Schritt
klebt ihm die katholische Tradition an den Sohlen, vergebens bemüht er sich,
sie los zu werden, ein romantischer Zug führt ihn immer wieder zu der alten
Geliebten zurück, der er mit seinem Austritt aus dem Priesterseminar nicht ganz
Lebewohl gesagt hat.

Nur in einem Punkt ist er wirklich frei, im Punkt des Dogma, und da¬
durch söhnt er bis zu einem gewissen Grad auch mit seiner kritischen Gebunden¬
heit wieder aus. Nämlich in so fern, als die letztere nirgends das absichtliche
Interesse verräth, von der dogmatischen Ueberlieferung so viel als möglich zu
retten. Die Resultate der Kritik sind unter den Theologen noch lange nicht
anerkannt, aber bei diesen merkt man die Absicht, sich ihnen zu entziehen, sie
zu ignoriren oder wenigstens zu verkleinern. Von dieser Absichtlichkeit ist Renan
frei. Sein Verfahren macht nirgends den Eindruck der Unredlichkeit; wenn er
die Legenden nacherzählt, thut er es mit der unbefangensten Miene von der
Welt, es ist so seine Natur, er hat sein Behagen daran und kein Arg dabei.
Und wie man ein Vergehen leichter beurtheilt, wenn es aus dem liebens¬
würdigen Leichtsinn einer sorglosen Natur entspringt, so kann man auch Renan
nicht ernstlich böse werden, wenn wir ihn auf denselben Wegen ertappen, die
von anderen in schlecht verhüllter Berechnung eingeschlagen werden.

Um die Unabhängigkeit von Renans Urtheil in theologischen Dingen zu
würdigen, muß man die letzten Seiten seiner Einleitung zu den Aposteln lesen.
Es weht hier ein Geist der Freiheit, der selbst wieder befreiender wirkt als die
treffendste Polemik. In heiterer Objektivität, ohne Haß und Spott, ohne Ab¬
sicht zu bekämpfen oder Proselyten zu werben, blickt er auf den Streit der
religiösen Meinungen mit dem parteilosen Auge des Naturforschers; und so
fern ist ihm jede Engherzigkeit, so weit liegt ihm das Dogma zurück, daß er
nicht einmal mehr polemisch durch dasselbe angeregt wird. Die Toleranz, die
er für sich beansprucht, übt er im höchsten Maße gegen andere Meinungen.
Zu dem Vorwort, mit welchem Strauß sein Leben Jesu eingeleitet hat. bildet
diese Ausführung ein für die religiöse Bewegung unserer Zeit höchst inter¬
essantes Gegenstück. Kleinlich wäre es, abzuwägen, welches die höhere, würdigere
und geschichtlichere Anschauung sei; denn jener Standpunkt der milden Objekti¬
vität ist ja selbst gar nicht denkbar, ohne die Arbeit der energischen, polemischen,


Grenzboten III. 18KK. 12

großartiger zusammengefaßt ist, so erfreut hier dagegen die Menge von charak-
teuflischen Detailangaben, die aus der damaligen Literatur glücklich ausgespült
und zusammengestellt sind. Hier darf man sich des historischen Sinnes von
Renan erfreuen und bedauert es um, so lebhafter, daß ihm der kritische so ganz
abgeht. Nichts wäre verkehrter, als wenn man sich, durch die Anatheme der
Orthodoxen aller Bekenntnisse verführt. Renan als einen allzu verwegenen Kri¬
tiker, der das Kind mit dem Bade ausschüttet, vorstellen wollte. Das Gegen-
theil ist der Fall, grade die Kritik ist seine schwache Seite. Bei jedem Schritt
klebt ihm die katholische Tradition an den Sohlen, vergebens bemüht er sich,
sie los zu werden, ein romantischer Zug führt ihn immer wieder zu der alten
Geliebten zurück, der er mit seinem Austritt aus dem Priesterseminar nicht ganz
Lebewohl gesagt hat.

Nur in einem Punkt ist er wirklich frei, im Punkt des Dogma, und da¬
durch söhnt er bis zu einem gewissen Grad auch mit seiner kritischen Gebunden¬
heit wieder aus. Nämlich in so fern, als die letztere nirgends das absichtliche
Interesse verräth, von der dogmatischen Ueberlieferung so viel als möglich zu
retten. Die Resultate der Kritik sind unter den Theologen noch lange nicht
anerkannt, aber bei diesen merkt man die Absicht, sich ihnen zu entziehen, sie
zu ignoriren oder wenigstens zu verkleinern. Von dieser Absichtlichkeit ist Renan
frei. Sein Verfahren macht nirgends den Eindruck der Unredlichkeit; wenn er
die Legenden nacherzählt, thut er es mit der unbefangensten Miene von der
Welt, es ist so seine Natur, er hat sein Behagen daran und kein Arg dabei.
Und wie man ein Vergehen leichter beurtheilt, wenn es aus dem liebens¬
würdigen Leichtsinn einer sorglosen Natur entspringt, so kann man auch Renan
nicht ernstlich böse werden, wenn wir ihn auf denselben Wegen ertappen, die
von anderen in schlecht verhüllter Berechnung eingeschlagen werden.

Um die Unabhängigkeit von Renans Urtheil in theologischen Dingen zu
würdigen, muß man die letzten Seiten seiner Einleitung zu den Aposteln lesen.
Es weht hier ein Geist der Freiheit, der selbst wieder befreiender wirkt als die
treffendste Polemik. In heiterer Objektivität, ohne Haß und Spott, ohne Ab¬
sicht zu bekämpfen oder Proselyten zu werben, blickt er auf den Streit der
religiösen Meinungen mit dem parteilosen Auge des Naturforschers; und so
fern ist ihm jede Engherzigkeit, so weit liegt ihm das Dogma zurück, daß er
nicht einmal mehr polemisch durch dasselbe angeregt wird. Die Toleranz, die
er für sich beansprucht, übt er im höchsten Maße gegen andere Meinungen.
Zu dem Vorwort, mit welchem Strauß sein Leben Jesu eingeleitet hat. bildet
diese Ausführung ein für die religiöse Bewegung unserer Zeit höchst inter¬
essantes Gegenstück. Kleinlich wäre es, abzuwägen, welches die höhere, würdigere
und geschichtlichere Anschauung sei; denn jener Standpunkt der milden Objekti¬
vität ist ja selbst gar nicht denkbar, ohne die Arbeit der energischen, polemischen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/111>, abgerufen am 04.07.2024.