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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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der Kirche treffenden Ausdruck, wenn er bemerkt: "Seine Kühnheit, seine
Kraft der Initiative, seine Entschiedenheit, welch ein kostbares Element werden
sie sein neben dem engherzigen, ängstlichen, unschlüssiger Geist der Heiligen in
Jerusalem! Sicherlich, wenn das Christenthum in den Händen dieser guten
Leute geblieben wäre, eingeschlossen in ein Conventikel von Erleuchteten und
ein gemeinschaftliches Leben Führenden, es wäre erloschen wie der Essäismus,
fast ohne die Spur eines Andenkens zu hinterlassen. Der unlenksame Paulus
wird das Christenthum zu Ehre und Ansehen bringen und es, allen Gefahren
Trotz bietend, kühn auf die hohe See steuern. Neben dem gehorsamen Gläu¬
bigen, der seinen Glauben ohne ein Wort zu sagen von seinem Oberen em¬
pfängt, wird der Christ stehen, der losgebunden von aller Autorität nur aus
persönlicher Ueberzeugung glaubt. Der Protestantismus existirt bereits fünf
Jahre nach dem Tode Jesu; Paulus ist der erlauchte Gründer desselben. Jesus
hatte ohne Zweifel solche Jünger nicht vorausgesetzt; aber vielleicht sind sie es,
welche am meisten dazu beitragen werden, daß sein Werk am Leben bleibt, ja
welche ihm die Ewigkeit sicherrt."

Nach einer glänzenden Schilderung von Antiochia, der Hauptstadt Syriens,
wo das Christenthum zuerst in Berührung mit dem eigentlichen Heidenthum
tritt, Paulus mit Barnabas verbunden eine Zeit lang wirkt und die Idee des
Heidenapostels in ihm entsteht, bricht die Erzählung ab, und es folgt zunächst
ein Capitel über die inneren Wirren in Judäa, dann ein Seitenblick auf gleich¬
zeitige religiöse Erscheinungen, die in Verwandtschaft mit der Bewegung des
Christenthums stehen. Leider läßt hier Renan den fabelhaften Simon von
Gideon, der zuerst in der judenchristlichen Parteiliteratur als eine gehässige
Karikatur des Apostels Paulus erscheint, der in abgeblaßter Gestalt, als der Ma¬
gier Simon, auch in der Apostelgeschichte eine Stelle gesunden hat, und der als
Vater der Ketzerei in die älteste Kirchenhistorie übergegangen ist, eine geschicht¬
liche Rolle spielen, die ihm die kritischen Untersuchungen von Baur u. a. ein
für alle Mal aberkannt haben. Für diejenigen, welchen diese Untersuchungen
bekannt sind, ist dieser Abschnitt vielleicht der allerpeinlichste: Renans Kritik¬
losigkeit wird hier gradezu unverständlich.

Eine Schilderung des Umsichgreifens der jüdischen Ideen in der heidnischen
Welt bildet den Uebergang zu den letzten Capiteln, die eine umfassende Dar¬
stellung der Zustände im römischen Reiche zu Ende des ersten Jahrhunderts in
politischer, socialer, geistiger, religiöser und kirchenrechtlicher Beziehung ent-
halten. Es sind dies die werthvollsten und wirklich lesenswürdigen Abschnitte
des Buchs. Ihr Inhalt ist, kurz gesagt, die Vorbereitung des Bodens der
alten Welt für die neue Religion. Auch nach den classischen Darstellungen von
Baur und Strauß behauptet diese einen selbständigen Werth. Denn wenn
dort ohne Zweifel der Gegenstand tiefer behandelt und in seinen Hauptzügen


der Kirche treffenden Ausdruck, wenn er bemerkt: „Seine Kühnheit, seine
Kraft der Initiative, seine Entschiedenheit, welch ein kostbares Element werden
sie sein neben dem engherzigen, ängstlichen, unschlüssiger Geist der Heiligen in
Jerusalem! Sicherlich, wenn das Christenthum in den Händen dieser guten
Leute geblieben wäre, eingeschlossen in ein Conventikel von Erleuchteten und
ein gemeinschaftliches Leben Führenden, es wäre erloschen wie der Essäismus,
fast ohne die Spur eines Andenkens zu hinterlassen. Der unlenksame Paulus
wird das Christenthum zu Ehre und Ansehen bringen und es, allen Gefahren
Trotz bietend, kühn auf die hohe See steuern. Neben dem gehorsamen Gläu¬
bigen, der seinen Glauben ohne ein Wort zu sagen von seinem Oberen em¬
pfängt, wird der Christ stehen, der losgebunden von aller Autorität nur aus
persönlicher Ueberzeugung glaubt. Der Protestantismus existirt bereits fünf
Jahre nach dem Tode Jesu; Paulus ist der erlauchte Gründer desselben. Jesus
hatte ohne Zweifel solche Jünger nicht vorausgesetzt; aber vielleicht sind sie es,
welche am meisten dazu beitragen werden, daß sein Werk am Leben bleibt, ja
welche ihm die Ewigkeit sicherrt."

Nach einer glänzenden Schilderung von Antiochia, der Hauptstadt Syriens,
wo das Christenthum zuerst in Berührung mit dem eigentlichen Heidenthum
tritt, Paulus mit Barnabas verbunden eine Zeit lang wirkt und die Idee des
Heidenapostels in ihm entsteht, bricht die Erzählung ab, und es folgt zunächst
ein Capitel über die inneren Wirren in Judäa, dann ein Seitenblick auf gleich¬
zeitige religiöse Erscheinungen, die in Verwandtschaft mit der Bewegung des
Christenthums stehen. Leider läßt hier Renan den fabelhaften Simon von
Gideon, der zuerst in der judenchristlichen Parteiliteratur als eine gehässige
Karikatur des Apostels Paulus erscheint, der in abgeblaßter Gestalt, als der Ma¬
gier Simon, auch in der Apostelgeschichte eine Stelle gesunden hat, und der als
Vater der Ketzerei in die älteste Kirchenhistorie übergegangen ist, eine geschicht¬
liche Rolle spielen, die ihm die kritischen Untersuchungen von Baur u. a. ein
für alle Mal aberkannt haben. Für diejenigen, welchen diese Untersuchungen
bekannt sind, ist dieser Abschnitt vielleicht der allerpeinlichste: Renans Kritik¬
losigkeit wird hier gradezu unverständlich.

Eine Schilderung des Umsichgreifens der jüdischen Ideen in der heidnischen
Welt bildet den Uebergang zu den letzten Capiteln, die eine umfassende Dar¬
stellung der Zustände im römischen Reiche zu Ende des ersten Jahrhunderts in
politischer, socialer, geistiger, religiöser und kirchenrechtlicher Beziehung ent-
halten. Es sind dies die werthvollsten und wirklich lesenswürdigen Abschnitte
des Buchs. Ihr Inhalt ist, kurz gesagt, die Vorbereitung des Bodens der
alten Welt für die neue Religion. Auch nach den classischen Darstellungen von
Baur und Strauß behauptet diese einen selbständigen Werth. Denn wenn
dort ohne Zweifel der Gegenstand tiefer behandelt und in seinen Hauptzügen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/110>, abgerufen am 04.07.2024.