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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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Beleuchtung seiner politischen und theologischen Stellung widerfahren. Zwar
wird S. 178 ff. in dankenswerther Weise das Vorurtheil eines liberalen Shake¬
speare zerstört und dafür sein naiv aristokratischer Standpunkt ganz nach Gebühr
zurechtgelegt, aber die Gluth seines Patriotismus und sein unvergleichlicher
Eifer für die auch die höchsten Größen auf Erden zermalmende Gerechtigkeit
sollte noch ganz anders seinem Charakter und seinem Genius gutgeschrieben
werden.

Ebenso enthält der Abschnitt über des Dichters Verhältniß zur Philo-
sophie, zum Pantheismus, zum Christenthum, Protestantismus, zu Kirche
und Geistlichkeit S. 171 ff. die Ergebnisse tief eindringender Forschungen;
aber es ist sachlich unrichtig, aus der isolirten Stellung des Dichters und
aus der karikirten Zeichnung des Puritanerthums in der Person des Angelo
in Maß für Maß heraus einen den Dichter betastenden Mangel an Bekannt¬
schaft mit der religiösen Richtung der Zukunft zu vermuthen, auch sein Aber
gegen das Pmitanerthum aus den Händeln zwischen diesem und dem Theater
zu erklären. Shakespeare hat in diesem Fall ganz als Dichter gehandelt; als
solchem ging ihn der Puritanismus mit seinem völlig poesicwidrigen Gepräge,
so wenig als die juridisch-politischen Fragen, von denen dies unser Verfasser
selber zugiebt, zum voraus nicht viel an. und es ist ganz in der Ordnung, daß
zwar die katholische Königin Katharina in Heinrich dem Achten im Punkte der
Frömmigkeit am besten wegkommt, der Puritaner aber. der. unbeschadet seiner
weltgeschichtlichen Bedeutung, für sich schon eine Karikatur ist. in dem widrigen
Angelo die einzig denkbare poetische Verwerthung erhält. Im Uebrigen besteht,
was politische und theologische Gesinnung betrifft, eine auffallende Ähnlichkeit
zwischen Shakespeare und Hume, und es wird bei beiden großen Männern,
die für die Ewigkeit schrieben, wenigstens ihre ungemeine Selbständigkeit von
dem lautesten Geschrei des Tages anzuerkennen sein.

Wir kommen an die Hauptausstcllung unseres Kritikers an seinem Gegen¬
stand. Die Anklage lautet aus nichts Geringeres, als auf Ungenüge in der
Motivirung der Handlung und daraus sich ergebende Unnatürlichkeit und
UnWahrscheinlichkeit in dem Gang der Stücke und in der Charakteristik. Man
sieht: die Belastung wäre keine so gar unbedeutende, wenn der Vorwurf aus dem
Dichter haften bliebe, zumal Goethe in keinem geringen Grad in diesem Punkte ein
Voraus haben soll. Zum Glück sind die speciellen Beweise unserer Schrift
S. 66 ff. für die vorgebrachte Beschuldigung nicht derart zwingend, daß sie
nicht anzuzweifeln wären. König Lear wird wegen der Märchenhaftigkeit der
ganzen Einleitung dieses Drama angegriffen und deswegen einem ganz andern
Genre der Dichtung, als zu dem der Dichter und seine unbedingten Verehrer es
zählen, zugeschrieben. Als ob nicht das Charakteristische des Mährchens, dieses
Werth der Laune und des Einfalls, das Walten des Zufalls und nur des Zufalls


Beleuchtung seiner politischen und theologischen Stellung widerfahren. Zwar
wird S. 178 ff. in dankenswerther Weise das Vorurtheil eines liberalen Shake¬
speare zerstört und dafür sein naiv aristokratischer Standpunkt ganz nach Gebühr
zurechtgelegt, aber die Gluth seines Patriotismus und sein unvergleichlicher
Eifer für die auch die höchsten Größen auf Erden zermalmende Gerechtigkeit
sollte noch ganz anders seinem Charakter und seinem Genius gutgeschrieben
werden.

Ebenso enthält der Abschnitt über des Dichters Verhältniß zur Philo-
sophie, zum Pantheismus, zum Christenthum, Protestantismus, zu Kirche
und Geistlichkeit S. 171 ff. die Ergebnisse tief eindringender Forschungen;
aber es ist sachlich unrichtig, aus der isolirten Stellung des Dichters und
aus der karikirten Zeichnung des Puritanerthums in der Person des Angelo
in Maß für Maß heraus einen den Dichter betastenden Mangel an Bekannt¬
schaft mit der religiösen Richtung der Zukunft zu vermuthen, auch sein Aber
gegen das Pmitanerthum aus den Händeln zwischen diesem und dem Theater
zu erklären. Shakespeare hat in diesem Fall ganz als Dichter gehandelt; als
solchem ging ihn der Puritanismus mit seinem völlig poesicwidrigen Gepräge,
so wenig als die juridisch-politischen Fragen, von denen dies unser Verfasser
selber zugiebt, zum voraus nicht viel an. und es ist ganz in der Ordnung, daß
zwar die katholische Königin Katharina in Heinrich dem Achten im Punkte der
Frömmigkeit am besten wegkommt, der Puritaner aber. der. unbeschadet seiner
weltgeschichtlichen Bedeutung, für sich schon eine Karikatur ist. in dem widrigen
Angelo die einzig denkbare poetische Verwerthung erhält. Im Uebrigen besteht,
was politische und theologische Gesinnung betrifft, eine auffallende Ähnlichkeit
zwischen Shakespeare und Hume, und es wird bei beiden großen Männern,
die für die Ewigkeit schrieben, wenigstens ihre ungemeine Selbständigkeit von
dem lautesten Geschrei des Tages anzuerkennen sein.

Wir kommen an die Hauptausstcllung unseres Kritikers an seinem Gegen¬
stand. Die Anklage lautet aus nichts Geringeres, als auf Ungenüge in der
Motivirung der Handlung und daraus sich ergebende Unnatürlichkeit und
UnWahrscheinlichkeit in dem Gang der Stücke und in der Charakteristik. Man
sieht: die Belastung wäre keine so gar unbedeutende, wenn der Vorwurf aus dem
Dichter haften bliebe, zumal Goethe in keinem geringen Grad in diesem Punkte ein
Voraus haben soll. Zum Glück sind die speciellen Beweise unserer Schrift
S. 66 ff. für die vorgebrachte Beschuldigung nicht derart zwingend, daß sie
nicht anzuzweifeln wären. König Lear wird wegen der Märchenhaftigkeit der
ganzen Einleitung dieses Drama angegriffen und deswegen einem ganz andern
Genre der Dichtung, als zu dem der Dichter und seine unbedingten Verehrer es
zählen, zugeschrieben. Als ob nicht das Charakteristische des Mährchens, dieses
Werth der Laune und des Einfalls, das Walten des Zufalls und nur des Zufalls


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[0058] Beleuchtung seiner politischen und theologischen Stellung widerfahren. Zwar wird S. 178 ff. in dankenswerther Weise das Vorurtheil eines liberalen Shake¬ speare zerstört und dafür sein naiv aristokratischer Standpunkt ganz nach Gebühr zurechtgelegt, aber die Gluth seines Patriotismus und sein unvergleichlicher Eifer für die auch die höchsten Größen auf Erden zermalmende Gerechtigkeit sollte noch ganz anders seinem Charakter und seinem Genius gutgeschrieben werden. Ebenso enthält der Abschnitt über des Dichters Verhältniß zur Philo- sophie, zum Pantheismus, zum Christenthum, Protestantismus, zu Kirche und Geistlichkeit S. 171 ff. die Ergebnisse tief eindringender Forschungen; aber es ist sachlich unrichtig, aus der isolirten Stellung des Dichters und aus der karikirten Zeichnung des Puritanerthums in der Person des Angelo in Maß für Maß heraus einen den Dichter betastenden Mangel an Bekannt¬ schaft mit der religiösen Richtung der Zukunft zu vermuthen, auch sein Aber gegen das Pmitanerthum aus den Händeln zwischen diesem und dem Theater zu erklären. Shakespeare hat in diesem Fall ganz als Dichter gehandelt; als solchem ging ihn der Puritanismus mit seinem völlig poesicwidrigen Gepräge, so wenig als die juridisch-politischen Fragen, von denen dies unser Verfasser selber zugiebt, zum voraus nicht viel an. und es ist ganz in der Ordnung, daß zwar die katholische Königin Katharina in Heinrich dem Achten im Punkte der Frömmigkeit am besten wegkommt, der Puritaner aber. der. unbeschadet seiner weltgeschichtlichen Bedeutung, für sich schon eine Karikatur ist. in dem widrigen Angelo die einzig denkbare poetische Verwerthung erhält. Im Uebrigen besteht, was politische und theologische Gesinnung betrifft, eine auffallende Ähnlichkeit zwischen Shakespeare und Hume, und es wird bei beiden großen Männern, die für die Ewigkeit schrieben, wenigstens ihre ungemeine Selbständigkeit von dem lautesten Geschrei des Tages anzuerkennen sein. Wir kommen an die Hauptausstcllung unseres Kritikers an seinem Gegen¬ stand. Die Anklage lautet aus nichts Geringeres, als auf Ungenüge in der Motivirung der Handlung und daraus sich ergebende Unnatürlichkeit und UnWahrscheinlichkeit in dem Gang der Stücke und in der Charakteristik. Man sieht: die Belastung wäre keine so gar unbedeutende, wenn der Vorwurf aus dem Dichter haften bliebe, zumal Goethe in keinem geringen Grad in diesem Punkte ein Voraus haben soll. Zum Glück sind die speciellen Beweise unserer Schrift S. 66 ff. für die vorgebrachte Beschuldigung nicht derart zwingend, daß sie nicht anzuzweifeln wären. König Lear wird wegen der Märchenhaftigkeit der ganzen Einleitung dieses Drama angegriffen und deswegen einem ganz andern Genre der Dichtung, als zu dem der Dichter und seine unbedingten Verehrer es zählen, zugeschrieben. Als ob nicht das Charakteristische des Mährchens, dieses Werth der Laune und des Einfalls, das Walten des Zufalls und nur des Zufalls

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/58>, abgerufen am 28.07.2024.