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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit ungefähr in dem Maße abnehmend, als man. in
höheren und immer höheren gesellschaftlichen Regionen nachfragt. Rafsinirter
Luxus und daneben der urthümlichste Schmutz, Sammt und Seide über un¬
saubrer Wäsche bis in den fürstlichen Palast hinauf. Pariser Salonmanieren
als Schminke über die Gesichter von Halbbarbaren gemalt, parfümirtcr Koth
aller Orten. In den ehelichen Verhältnissen eine Verderbniß, die das Harem¬
wesen der Osmanli, welches sie in gewissem Maße hervorgerufen, weit über¬
bietet, offenkundiges, von niemand getadeltes Absehen von aller Pflicht (wir
reden hier natürlich nur von den größern Städten und dem Adel), Scheidungen
im Handumdrehen, Entführungen und eine Blüthe der Demimonde, mit und
ohne Patschuli, wie sie das pariser Muster kaum entwickelter aufzuweisen
hat. Das Familienleben fast überall zerrüttet, vielfach ganz ersterben. Ueber
alle endlich, von oben herab bis zu den Bauern des platten Landes der ein¬
schläfernde Weihrauchskessel jenes im tiefen Mittelalter stecken gebliebenen Stücks
Christenthum, welches sich die orthodoxe Kirche nennt, und welches mit seinen
hundertundfunfzig Feiertagen im Jahre und seinem thörichten Fastcnzwang alle
ihm anhängenden Völker dem Westen gegenüber'zu bleibender Inferiorität in
Sachen der Industrie und des Ackerbaus verurtheilt.

In der That, es gab viel aufzuräumen, wenn sich aus solchen Zuständen
ein leidliches Staatswesen entwickeln sollte, und wir werden uns nicht wundern
dürfe", wenn davon bis jetzt noch nicht viel zu merken ist. Sehen wir zu,
was dabei herauskam, und wie sich das gestaltete.

Die Artikel 23 und 26 des pariser Vertrags von 1866 setzten fest, daß
den Donausürstenthümern eine neue Verfassung zu geben sei. Das denselben
von den Russen aufgenöthigte organische Reglement wurde verworfen, und es
sollten Divans aä Joe, einer für die Moldau und einer für die Walachei ein¬
berufen werden, um in Gemeinschaft mit einer europäischen Commission, zu der
jede von den vertragschließenden Mächten Vertreter schickte, die Neugestaltung
des Landes nach den Wünschen desselben vorzubereiten. Die Commission machte
sich an das Studium des Volkes und seiner Bedürfnisse und fand, daß eine
starke Partei vor allem Anerkennung der Autonomie der Fürstentümer, Ve"
einigung derselben unter einem fremden Fürsten und eine parlamentarische Ver¬
fassung erstrebte. Die Unionspartei, vorzüglich start in der Walachei, wo ihr
namentlich der größte Theil der jüngeren Adeligen angehörte, wurde besonders
von Frankreich protegirt, die Kaimakcnne beider Fürstentümer, die Anhänger
Englands und Oestreichs und ein Theil der Conservativen waren auf gegne-
rischer Seite, auf der selbstverständlich auch die Pforte stand. Am 19. Juli
1867 fanden in der Moldau die Wahlen zum Divan statt, und die Unionisten
unterlagen vollständig, da die Gegner, im Besitz der Gewalt, mit allen Mitteln
dagegen gewirkt hatten. Auf die Kunde hiervon protestirte Frankreich gegen


Grenzboten II. 1866. 68

Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit ungefähr in dem Maße abnehmend, als man. in
höheren und immer höheren gesellschaftlichen Regionen nachfragt. Rafsinirter
Luxus und daneben der urthümlichste Schmutz, Sammt und Seide über un¬
saubrer Wäsche bis in den fürstlichen Palast hinauf. Pariser Salonmanieren
als Schminke über die Gesichter von Halbbarbaren gemalt, parfümirtcr Koth
aller Orten. In den ehelichen Verhältnissen eine Verderbniß, die das Harem¬
wesen der Osmanli, welches sie in gewissem Maße hervorgerufen, weit über¬
bietet, offenkundiges, von niemand getadeltes Absehen von aller Pflicht (wir
reden hier natürlich nur von den größern Städten und dem Adel), Scheidungen
im Handumdrehen, Entführungen und eine Blüthe der Demimonde, mit und
ohne Patschuli, wie sie das pariser Muster kaum entwickelter aufzuweisen
hat. Das Familienleben fast überall zerrüttet, vielfach ganz ersterben. Ueber
alle endlich, von oben herab bis zu den Bauern des platten Landes der ein¬
schläfernde Weihrauchskessel jenes im tiefen Mittelalter stecken gebliebenen Stücks
Christenthum, welches sich die orthodoxe Kirche nennt, und welches mit seinen
hundertundfunfzig Feiertagen im Jahre und seinem thörichten Fastcnzwang alle
ihm anhängenden Völker dem Westen gegenüber'zu bleibender Inferiorität in
Sachen der Industrie und des Ackerbaus verurtheilt.

In der That, es gab viel aufzuräumen, wenn sich aus solchen Zuständen
ein leidliches Staatswesen entwickeln sollte, und wir werden uns nicht wundern
dürfe», wenn davon bis jetzt noch nicht viel zu merken ist. Sehen wir zu,
was dabei herauskam, und wie sich das gestaltete.

Die Artikel 23 und 26 des pariser Vertrags von 1866 setzten fest, daß
den Donausürstenthümern eine neue Verfassung zu geben sei. Das denselben
von den Russen aufgenöthigte organische Reglement wurde verworfen, und es
sollten Divans aä Joe, einer für die Moldau und einer für die Walachei ein¬
berufen werden, um in Gemeinschaft mit einer europäischen Commission, zu der
jede von den vertragschließenden Mächten Vertreter schickte, die Neugestaltung
des Landes nach den Wünschen desselben vorzubereiten. Die Commission machte
sich an das Studium des Volkes und seiner Bedürfnisse und fand, daß eine
starke Partei vor allem Anerkennung der Autonomie der Fürstentümer, Ve»
einigung derselben unter einem fremden Fürsten und eine parlamentarische Ver¬
fassung erstrebte. Die Unionspartei, vorzüglich start in der Walachei, wo ihr
namentlich der größte Theil der jüngeren Adeligen angehörte, wurde besonders
von Frankreich protegirt, die Kaimakcnne beider Fürstentümer, die Anhänger
Englands und Oestreichs und ein Theil der Conservativen waren auf gegne-
rischer Seite, auf der selbstverständlich auch die Pforte stand. Am 19. Juli
1867 fanden in der Moldau die Wahlen zum Divan statt, und die Unionisten
unterlagen vollständig, da die Gegner, im Besitz der Gewalt, mit allen Mitteln
dagegen gewirkt hatten. Auf die Kunde hiervon protestirte Frankreich gegen


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[0489] Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit ungefähr in dem Maße abnehmend, als man. in höheren und immer höheren gesellschaftlichen Regionen nachfragt. Rafsinirter Luxus und daneben der urthümlichste Schmutz, Sammt und Seide über un¬ saubrer Wäsche bis in den fürstlichen Palast hinauf. Pariser Salonmanieren als Schminke über die Gesichter von Halbbarbaren gemalt, parfümirtcr Koth aller Orten. In den ehelichen Verhältnissen eine Verderbniß, die das Harem¬ wesen der Osmanli, welches sie in gewissem Maße hervorgerufen, weit über¬ bietet, offenkundiges, von niemand getadeltes Absehen von aller Pflicht (wir reden hier natürlich nur von den größern Städten und dem Adel), Scheidungen im Handumdrehen, Entführungen und eine Blüthe der Demimonde, mit und ohne Patschuli, wie sie das pariser Muster kaum entwickelter aufzuweisen hat. Das Familienleben fast überall zerrüttet, vielfach ganz ersterben. Ueber alle endlich, von oben herab bis zu den Bauern des platten Landes der ein¬ schläfernde Weihrauchskessel jenes im tiefen Mittelalter stecken gebliebenen Stücks Christenthum, welches sich die orthodoxe Kirche nennt, und welches mit seinen hundertundfunfzig Feiertagen im Jahre und seinem thörichten Fastcnzwang alle ihm anhängenden Völker dem Westen gegenüber'zu bleibender Inferiorität in Sachen der Industrie und des Ackerbaus verurtheilt. In der That, es gab viel aufzuräumen, wenn sich aus solchen Zuständen ein leidliches Staatswesen entwickeln sollte, und wir werden uns nicht wundern dürfe», wenn davon bis jetzt noch nicht viel zu merken ist. Sehen wir zu, was dabei herauskam, und wie sich das gestaltete. Die Artikel 23 und 26 des pariser Vertrags von 1866 setzten fest, daß den Donausürstenthümern eine neue Verfassung zu geben sei. Das denselben von den Russen aufgenöthigte organische Reglement wurde verworfen, und es sollten Divans aä Joe, einer für die Moldau und einer für die Walachei ein¬ berufen werden, um in Gemeinschaft mit einer europäischen Commission, zu der jede von den vertragschließenden Mächten Vertreter schickte, die Neugestaltung des Landes nach den Wünschen desselben vorzubereiten. Die Commission machte sich an das Studium des Volkes und seiner Bedürfnisse und fand, daß eine starke Partei vor allem Anerkennung der Autonomie der Fürstentümer, Ve» einigung derselben unter einem fremden Fürsten und eine parlamentarische Ver¬ fassung erstrebte. Die Unionspartei, vorzüglich start in der Walachei, wo ihr namentlich der größte Theil der jüngeren Adeligen angehörte, wurde besonders von Frankreich protegirt, die Kaimakcnne beider Fürstentümer, die Anhänger Englands und Oestreichs und ein Theil der Conservativen waren auf gegne- rischer Seite, auf der selbstverständlich auch die Pforte stand. Am 19. Juli 1867 fanden in der Moldau die Wahlen zum Divan statt, und die Unionisten unterlagen vollständig, da die Gegner, im Besitz der Gewalt, mit allen Mitteln dagegen gewirkt hatten. Auf die Kunde hiervon protestirte Frankreich gegen Grenzboten II. 1866. 68

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/489>, abgerufen am 28.07.2024.