Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Kriege unter Katharina. Alexander dem Ersten und Nikolaus, das predigten
zahlreiche Emissäre, das flüsterte man vom Palast des Bojaren bis herab zu der
Erdhütte des Bauern, die ersehnte Erlösung vom Türkenjoch, von da aus
empfing man Ermunterung, Mittel und bald auch Befehle zum Widerstande,
von da aus erwartete man nicht blos den Messias, sondern auch den künftigen
Herrscher des rechtgläubigen Volks auf der Balkanhalbinsel.

Seitdem ist es in einigen wesentlichen Beziehungen anders geworden. Der
Druck, der auf den Christen der Türkei lastete, hat nachgelassen, dieselben haben
gelernt, daß sie nicht blos in Rußland Beschützer haben, und daß Rußland
nicht allmächtig ist. sie beginnen, zum Theil auf Grund praktischer Erfahrung,
einzusehen, daß ihre Interessen keineswegs in allen Stücken dieselben sind wie
die des großen Nachbars im Nordosten, und sie haben vor allem angefangen,
sich nicht blos als Glieder der orthodoxen Kirche, sondern auch als Nationen
zu fühlen und darnach besondere staatliche Gestaltung zu erstreben.

Alles das ist noch im ersten Werden. Die russische Partei, mit einer
Großmacht als Rückhalt, ist allenthalben noch stark und rührig, die Massen sind
roh, beschränkt und neuen politischen Gedanken wenig zugänglich, die höhere
Classe bietet, durch das frühere Regiment demoralisirt, durch Intriguen und
Factionen gespalten, theils ultraconservativ, theils phantastisch radical und in
allen Fällen mehr der großen Phrase als dem Opfer heischenden Fortschritt in
der Wirklichkeit zugethan, nur wenige brauchbare Elemente zum Bau eines
Dauer verheißenden und die Zwecke eines Staates erfüllenden Organismus.

Indeß ist die Möglichkeit, daß sich die orientalische Frage durch Umbildung
des jetzigen Chaos in eine Reihe mittelgroßer Staaten zwischen Adria und Pruth
löst, und daß diese Staaten bleibende Consistenz gewinnen, nicht zu bestreiten.
Alles wird darauf ankommen, wie sich die Verhältnisse der Großmächte in der
nächsten Zeit gestalten. Wohl die meisten Chancen, sich von Rußland unab¬
hängig zu erhalten, wenn diese Verhältnisse keine bedeutende Störung erleiden,
hat Rumänien, welches, als dem Meere am nächsten gelegen, der wirksamen
Unterstützung der Westmächte am sichersten ist, und welches nicht, wie das be¬
nachbarte Serbien, von der Petersburger Politik neben kirchlichen Einflüssen
auch die Idee des Panslavismus gegen seine Selbständigkeit ins Feld ge¬
führt sieht.

Die Moldauer und Walachen sind ihrer Hauptmasse nach ein zur romanischen
Völkerfamilie zu zählender Stamm, Abkömmlinge der den Kelten verwandten
alten Dacier und römischer Kolonisten, gemischt mit slavischen, bulgarischen und
magyarischen Einwanderern aus der Nachbarschaft, "sowie mit Griechen. Ihre
Sprache ist ein verdorbenes Bauernlatein, das im Lauf der Jahrhunderte gleich
dem Volke einige Elemente aus den unmittelbaren Umgebungen des Landes
aufgenommen hat. Ihr äußerer Habitus erinnert an Spanier und Italiener.


Kriege unter Katharina. Alexander dem Ersten und Nikolaus, das predigten
zahlreiche Emissäre, das flüsterte man vom Palast des Bojaren bis herab zu der
Erdhütte des Bauern, die ersehnte Erlösung vom Türkenjoch, von da aus
empfing man Ermunterung, Mittel und bald auch Befehle zum Widerstande,
von da aus erwartete man nicht blos den Messias, sondern auch den künftigen
Herrscher des rechtgläubigen Volks auf der Balkanhalbinsel.

Seitdem ist es in einigen wesentlichen Beziehungen anders geworden. Der
Druck, der auf den Christen der Türkei lastete, hat nachgelassen, dieselben haben
gelernt, daß sie nicht blos in Rußland Beschützer haben, und daß Rußland
nicht allmächtig ist. sie beginnen, zum Theil auf Grund praktischer Erfahrung,
einzusehen, daß ihre Interessen keineswegs in allen Stücken dieselben sind wie
die des großen Nachbars im Nordosten, und sie haben vor allem angefangen,
sich nicht blos als Glieder der orthodoxen Kirche, sondern auch als Nationen
zu fühlen und darnach besondere staatliche Gestaltung zu erstreben.

Alles das ist noch im ersten Werden. Die russische Partei, mit einer
Großmacht als Rückhalt, ist allenthalben noch stark und rührig, die Massen sind
roh, beschränkt und neuen politischen Gedanken wenig zugänglich, die höhere
Classe bietet, durch das frühere Regiment demoralisirt, durch Intriguen und
Factionen gespalten, theils ultraconservativ, theils phantastisch radical und in
allen Fällen mehr der großen Phrase als dem Opfer heischenden Fortschritt in
der Wirklichkeit zugethan, nur wenige brauchbare Elemente zum Bau eines
Dauer verheißenden und die Zwecke eines Staates erfüllenden Organismus.

Indeß ist die Möglichkeit, daß sich die orientalische Frage durch Umbildung
des jetzigen Chaos in eine Reihe mittelgroßer Staaten zwischen Adria und Pruth
löst, und daß diese Staaten bleibende Consistenz gewinnen, nicht zu bestreiten.
Alles wird darauf ankommen, wie sich die Verhältnisse der Großmächte in der
nächsten Zeit gestalten. Wohl die meisten Chancen, sich von Rußland unab¬
hängig zu erhalten, wenn diese Verhältnisse keine bedeutende Störung erleiden,
hat Rumänien, welches, als dem Meere am nächsten gelegen, der wirksamen
Unterstützung der Westmächte am sichersten ist, und welches nicht, wie das be¬
nachbarte Serbien, von der Petersburger Politik neben kirchlichen Einflüssen
auch die Idee des Panslavismus gegen seine Selbständigkeit ins Feld ge¬
führt sieht.

Die Moldauer und Walachen sind ihrer Hauptmasse nach ein zur romanischen
Völkerfamilie zu zählender Stamm, Abkömmlinge der den Kelten verwandten
alten Dacier und römischer Kolonisten, gemischt mit slavischen, bulgarischen und
magyarischen Einwanderern aus der Nachbarschaft, »sowie mit Griechen. Ihre
Sprache ist ein verdorbenes Bauernlatein, das im Lauf der Jahrhunderte gleich
dem Volke einige Elemente aus den unmittelbaren Umgebungen des Landes
aufgenommen hat. Ihr äußerer Habitus erinnert an Spanier und Italiener.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0487" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/285515"/>
          <p xml:id="ID_1475" prev="#ID_1474"> Kriege unter Katharina. Alexander dem Ersten und Nikolaus, das predigten<lb/>
zahlreiche Emissäre, das flüsterte man vom Palast des Bojaren bis herab zu der<lb/>
Erdhütte des Bauern, die ersehnte Erlösung vom Türkenjoch, von da aus<lb/>
empfing man Ermunterung, Mittel und bald auch Befehle zum Widerstande,<lb/>
von da aus erwartete man nicht blos den Messias, sondern auch den künftigen<lb/>
Herrscher des rechtgläubigen Volks auf der Balkanhalbinsel.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1476"> Seitdem ist es in einigen wesentlichen Beziehungen anders geworden. Der<lb/>
Druck, der auf den Christen der Türkei lastete, hat nachgelassen, dieselben haben<lb/>
gelernt, daß sie nicht blos in Rußland Beschützer haben, und daß Rußland<lb/>
nicht allmächtig ist. sie beginnen, zum Theil auf Grund praktischer Erfahrung,<lb/>
einzusehen, daß ihre Interessen keineswegs in allen Stücken dieselben sind wie<lb/>
die des großen Nachbars im Nordosten, und sie haben vor allem angefangen,<lb/>
sich nicht blos als Glieder der orthodoxen Kirche, sondern auch als Nationen<lb/>
zu fühlen und darnach besondere staatliche Gestaltung zu erstreben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1477"> Alles das ist noch im ersten Werden. Die russische Partei, mit einer<lb/>
Großmacht als Rückhalt, ist allenthalben noch stark und rührig, die Massen sind<lb/>
roh, beschränkt und neuen politischen Gedanken wenig zugänglich, die höhere<lb/>
Classe bietet, durch das frühere Regiment demoralisirt, durch Intriguen und<lb/>
Factionen gespalten, theils ultraconservativ, theils phantastisch radical und in<lb/>
allen Fällen mehr der großen Phrase als dem Opfer heischenden Fortschritt in<lb/>
der Wirklichkeit zugethan, nur wenige brauchbare Elemente zum Bau eines<lb/>
Dauer verheißenden und die Zwecke eines Staates erfüllenden Organismus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1478"> Indeß ist die Möglichkeit, daß sich die orientalische Frage durch Umbildung<lb/>
des jetzigen Chaos in eine Reihe mittelgroßer Staaten zwischen Adria und Pruth<lb/>
löst, und daß diese Staaten bleibende Consistenz gewinnen, nicht zu bestreiten.<lb/>
Alles wird darauf ankommen, wie sich die Verhältnisse der Großmächte in der<lb/>
nächsten Zeit gestalten. Wohl die meisten Chancen, sich von Rußland unab¬<lb/>
hängig zu erhalten, wenn diese Verhältnisse keine bedeutende Störung erleiden,<lb/>
hat Rumänien, welches, als dem Meere am nächsten gelegen, der wirksamen<lb/>
Unterstützung der Westmächte am sichersten ist, und welches nicht, wie das be¬<lb/>
nachbarte Serbien, von der Petersburger Politik neben kirchlichen Einflüssen<lb/>
auch die Idee des Panslavismus gegen seine Selbständigkeit ins Feld ge¬<lb/>
führt sieht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1479" next="#ID_1480"> Die Moldauer und Walachen sind ihrer Hauptmasse nach ein zur romanischen<lb/>
Völkerfamilie zu zählender Stamm, Abkömmlinge der den Kelten verwandten<lb/>
alten Dacier und römischer Kolonisten, gemischt mit slavischen, bulgarischen und<lb/>
magyarischen Einwanderern aus der Nachbarschaft, »sowie mit Griechen. Ihre<lb/>
Sprache ist ein verdorbenes Bauernlatein, das im Lauf der Jahrhunderte gleich<lb/>
dem Volke einige Elemente aus den unmittelbaren Umgebungen des Landes<lb/>
aufgenommen hat.  Ihr äußerer Habitus erinnert an Spanier und Italiener.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0487] Kriege unter Katharina. Alexander dem Ersten und Nikolaus, das predigten zahlreiche Emissäre, das flüsterte man vom Palast des Bojaren bis herab zu der Erdhütte des Bauern, die ersehnte Erlösung vom Türkenjoch, von da aus empfing man Ermunterung, Mittel und bald auch Befehle zum Widerstande, von da aus erwartete man nicht blos den Messias, sondern auch den künftigen Herrscher des rechtgläubigen Volks auf der Balkanhalbinsel. Seitdem ist es in einigen wesentlichen Beziehungen anders geworden. Der Druck, der auf den Christen der Türkei lastete, hat nachgelassen, dieselben haben gelernt, daß sie nicht blos in Rußland Beschützer haben, und daß Rußland nicht allmächtig ist. sie beginnen, zum Theil auf Grund praktischer Erfahrung, einzusehen, daß ihre Interessen keineswegs in allen Stücken dieselben sind wie die des großen Nachbars im Nordosten, und sie haben vor allem angefangen, sich nicht blos als Glieder der orthodoxen Kirche, sondern auch als Nationen zu fühlen und darnach besondere staatliche Gestaltung zu erstreben. Alles das ist noch im ersten Werden. Die russische Partei, mit einer Großmacht als Rückhalt, ist allenthalben noch stark und rührig, die Massen sind roh, beschränkt und neuen politischen Gedanken wenig zugänglich, die höhere Classe bietet, durch das frühere Regiment demoralisirt, durch Intriguen und Factionen gespalten, theils ultraconservativ, theils phantastisch radical und in allen Fällen mehr der großen Phrase als dem Opfer heischenden Fortschritt in der Wirklichkeit zugethan, nur wenige brauchbare Elemente zum Bau eines Dauer verheißenden und die Zwecke eines Staates erfüllenden Organismus. Indeß ist die Möglichkeit, daß sich die orientalische Frage durch Umbildung des jetzigen Chaos in eine Reihe mittelgroßer Staaten zwischen Adria und Pruth löst, und daß diese Staaten bleibende Consistenz gewinnen, nicht zu bestreiten. Alles wird darauf ankommen, wie sich die Verhältnisse der Großmächte in der nächsten Zeit gestalten. Wohl die meisten Chancen, sich von Rußland unab¬ hängig zu erhalten, wenn diese Verhältnisse keine bedeutende Störung erleiden, hat Rumänien, welches, als dem Meere am nächsten gelegen, der wirksamen Unterstützung der Westmächte am sichersten ist, und welches nicht, wie das be¬ nachbarte Serbien, von der Petersburger Politik neben kirchlichen Einflüssen auch die Idee des Panslavismus gegen seine Selbständigkeit ins Feld ge¬ führt sieht. Die Moldauer und Walachen sind ihrer Hauptmasse nach ein zur romanischen Völkerfamilie zu zählender Stamm, Abkömmlinge der den Kelten verwandten alten Dacier und römischer Kolonisten, gemischt mit slavischen, bulgarischen und magyarischen Einwanderern aus der Nachbarschaft, »sowie mit Griechen. Ihre Sprache ist ein verdorbenes Bauernlatein, das im Lauf der Jahrhunderte gleich dem Volke einige Elemente aus den unmittelbaren Umgebungen des Landes aufgenommen hat. Ihr äußerer Habitus erinnert an Spanier und Italiener.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/487
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/487>, abgerufen am 28.07.2024.