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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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die Erziehung der heranwachsenden Generation in nationalem Sinne-, die Jugend
lernte die Waffen tragen, die schönen Künste wurden aufgemuntert, mit En¬
thusiasmus die heimische Sprache und Literatur gepflegt. Die Bewohner ver¬
schiedener Provinzen, bisher durch Gewohnheit und getrennte Regierungen ein¬
ander entfremdet, traten in Verkehr und begannen sich als Glieder einer Nation
zu fühlen. Von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag wurde diese Verschmelzung
inniger, die Hoffnungen allgemeiner. Gezwungen für fremde Interessen zu
kämpfen, trösteten sie sich mit dem Gedanken, daß sie sich kräftigem, eines Tags
für ihre eigene Sache einzustehen. Und dieser Tag der Unabhängigkeit schien
nicht ferne. Beim Tod Napoleons oder bei seinem Sturz schien es in der
Ordnung der Dinge, daß dieses Königreich Italien, bereits constituirt, im Besitz
einer bestehenden Regierung, einer Armee und einer öffentlichen Meinung, auf
eigenen Füßen stehen, sich von Frankreich unabhängig machen und dem fran¬
zösischen Italien helfen könne, seine Ketten zu brechen. Dies waren die in
Italien vorherrschenden Meinungen, als im Jahr 1812 der Stern Napoleons
zu erbleichen anfing. (N. Bianchi I, S. 442 ff.)

Die Besetzung des Landes durch die Oestreicher, welche ihre Absichten nicht
verhehlten und sich zum Voraus wenigstens der Zustimmung Englands (Geheimer
Vertrag von Prag 27. Juli 1813) versichert hatten, machte diesen Erwartungen
ein Ende. Als auch die kurz aufleuchtende Hoffnung, welche Murats Erhebung
erweckt hatte, verschwunden war, blieb nur Piemont zurück, um gewissermaßen
die Tradition des Königreichs Italien fortzusetzen. Zwar hatte bis dahin
Piemont noch gar nicht als vollbürtiges italienisches Land gegolten, man sah
im übrigen Italien, das, je trauriger die Gegenwart war, um so mehr in
seinen stolzen Erinnerungen schwelgte, mit einiger Geringschätzung auf die
Böotier in dem subalpinischen Staat herab, dessen Geschichte mit der der übrigen
Halbinsel kaum zusammenhing. Erst mit Alfieri hatte Piemont begonnen in
die geistige Entwicklung Italiens einzutreten und Alfieri selbst nannte seine
Heimath noch ein amphibisches Land, und hat Jahre in Florenz zubringen
müssen, um nur die toscanische Sprache zu erlernen. Der piemontesische Geist
mit seiner Nüchternheit, Strenge und militärischen Disciplin, mit seiner Loyalität
und Ordnungsliebe hatte für die übrigen Jtaliner etwas Antipathisches. So
kam eS, daß beim Sturz Napoleons nur wenige sich mit dem Gedanken be¬
freundeten, dieser nordwestliche Winkel der Halbinsel sei nunmehr die Freistätte
für den nationalitalienischen Geist und die Wiege der Zukunft Italiens. Wohl
aber waren sich die Staatsmänner Piemonts selbst dieses Berufs bewußt, zu
dem in der That seit drei Jahrhunderten die Geschichte den Grund gelegt zu
haben schien.

Vor allem eigenthümlich war dem piemontesischen Staat, daß er mit seinen
Fürsten und durch sie zur Geltung gekommen war. Hier lebte keine Erinnerung


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die Erziehung der heranwachsenden Generation in nationalem Sinne-, die Jugend
lernte die Waffen tragen, die schönen Künste wurden aufgemuntert, mit En¬
thusiasmus die heimische Sprache und Literatur gepflegt. Die Bewohner ver¬
schiedener Provinzen, bisher durch Gewohnheit und getrennte Regierungen ein¬
ander entfremdet, traten in Verkehr und begannen sich als Glieder einer Nation
zu fühlen. Von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag wurde diese Verschmelzung
inniger, die Hoffnungen allgemeiner. Gezwungen für fremde Interessen zu
kämpfen, trösteten sie sich mit dem Gedanken, daß sie sich kräftigem, eines Tags
für ihre eigene Sache einzustehen. Und dieser Tag der Unabhängigkeit schien
nicht ferne. Beim Tod Napoleons oder bei seinem Sturz schien es in der
Ordnung der Dinge, daß dieses Königreich Italien, bereits constituirt, im Besitz
einer bestehenden Regierung, einer Armee und einer öffentlichen Meinung, auf
eigenen Füßen stehen, sich von Frankreich unabhängig machen und dem fran¬
zösischen Italien helfen könne, seine Ketten zu brechen. Dies waren die in
Italien vorherrschenden Meinungen, als im Jahr 1812 der Stern Napoleons
zu erbleichen anfing. (N. Bianchi I, S. 442 ff.)

Die Besetzung des Landes durch die Oestreicher, welche ihre Absichten nicht
verhehlten und sich zum Voraus wenigstens der Zustimmung Englands (Geheimer
Vertrag von Prag 27. Juli 1813) versichert hatten, machte diesen Erwartungen
ein Ende. Als auch die kurz aufleuchtende Hoffnung, welche Murats Erhebung
erweckt hatte, verschwunden war, blieb nur Piemont zurück, um gewissermaßen
die Tradition des Königreichs Italien fortzusetzen. Zwar hatte bis dahin
Piemont noch gar nicht als vollbürtiges italienisches Land gegolten, man sah
im übrigen Italien, das, je trauriger die Gegenwart war, um so mehr in
seinen stolzen Erinnerungen schwelgte, mit einiger Geringschätzung auf die
Böotier in dem subalpinischen Staat herab, dessen Geschichte mit der der übrigen
Halbinsel kaum zusammenhing. Erst mit Alfieri hatte Piemont begonnen in
die geistige Entwicklung Italiens einzutreten und Alfieri selbst nannte seine
Heimath noch ein amphibisches Land, und hat Jahre in Florenz zubringen
müssen, um nur die toscanische Sprache zu erlernen. Der piemontesische Geist
mit seiner Nüchternheit, Strenge und militärischen Disciplin, mit seiner Loyalität
und Ordnungsliebe hatte für die übrigen Jtaliner etwas Antipathisches. So
kam eS, daß beim Sturz Napoleons nur wenige sich mit dem Gedanken be¬
freundeten, dieser nordwestliche Winkel der Halbinsel sei nunmehr die Freistätte
für den nationalitalienischen Geist und die Wiege der Zukunft Italiens. Wohl
aber waren sich die Staatsmänner Piemonts selbst dieses Berufs bewußt, zu
dem in der That seit drei Jahrhunderten die Geschichte den Grund gelegt zu
haben schien.

Vor allem eigenthümlich war dem piemontesischen Staat, daß er mit seinen
Fürsten und durch sie zur Geltung gekommen war. Hier lebte keine Erinnerung


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[0441] die Erziehung der heranwachsenden Generation in nationalem Sinne-, die Jugend lernte die Waffen tragen, die schönen Künste wurden aufgemuntert, mit En¬ thusiasmus die heimische Sprache und Literatur gepflegt. Die Bewohner ver¬ schiedener Provinzen, bisher durch Gewohnheit und getrennte Regierungen ein¬ ander entfremdet, traten in Verkehr und begannen sich als Glieder einer Nation zu fühlen. Von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag wurde diese Verschmelzung inniger, die Hoffnungen allgemeiner. Gezwungen für fremde Interessen zu kämpfen, trösteten sie sich mit dem Gedanken, daß sie sich kräftigem, eines Tags für ihre eigene Sache einzustehen. Und dieser Tag der Unabhängigkeit schien nicht ferne. Beim Tod Napoleons oder bei seinem Sturz schien es in der Ordnung der Dinge, daß dieses Königreich Italien, bereits constituirt, im Besitz einer bestehenden Regierung, einer Armee und einer öffentlichen Meinung, auf eigenen Füßen stehen, sich von Frankreich unabhängig machen und dem fran¬ zösischen Italien helfen könne, seine Ketten zu brechen. Dies waren die in Italien vorherrschenden Meinungen, als im Jahr 1812 der Stern Napoleons zu erbleichen anfing. (N. Bianchi I, S. 442 ff.) Die Besetzung des Landes durch die Oestreicher, welche ihre Absichten nicht verhehlten und sich zum Voraus wenigstens der Zustimmung Englands (Geheimer Vertrag von Prag 27. Juli 1813) versichert hatten, machte diesen Erwartungen ein Ende. Als auch die kurz aufleuchtende Hoffnung, welche Murats Erhebung erweckt hatte, verschwunden war, blieb nur Piemont zurück, um gewissermaßen die Tradition des Königreichs Italien fortzusetzen. Zwar hatte bis dahin Piemont noch gar nicht als vollbürtiges italienisches Land gegolten, man sah im übrigen Italien, das, je trauriger die Gegenwart war, um so mehr in seinen stolzen Erinnerungen schwelgte, mit einiger Geringschätzung auf die Böotier in dem subalpinischen Staat herab, dessen Geschichte mit der der übrigen Halbinsel kaum zusammenhing. Erst mit Alfieri hatte Piemont begonnen in die geistige Entwicklung Italiens einzutreten und Alfieri selbst nannte seine Heimath noch ein amphibisches Land, und hat Jahre in Florenz zubringen müssen, um nur die toscanische Sprache zu erlernen. Der piemontesische Geist mit seiner Nüchternheit, Strenge und militärischen Disciplin, mit seiner Loyalität und Ordnungsliebe hatte für die übrigen Jtaliner etwas Antipathisches. So kam eS, daß beim Sturz Napoleons nur wenige sich mit dem Gedanken be¬ freundeten, dieser nordwestliche Winkel der Halbinsel sei nunmehr die Freistätte für den nationalitalienischen Geist und die Wiege der Zukunft Italiens. Wohl aber waren sich die Staatsmänner Piemonts selbst dieses Berufs bewußt, zu dem in der That seit drei Jahrhunderten die Geschichte den Grund gelegt zu haben schien. Vor allem eigenthümlich war dem piemontesischen Staat, daß er mit seinen Fürsten und durch sie zur Geltung gekommen war. Hier lebte keine Erinnerung 62*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/441>, abgerufen am 28.07.2024.