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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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ten, aber diese Angabe beruht sehr wahrscheinlich auf einem Fehler, wie sicher
die, daß auch der, dem hebräischen Text stets vollkommen fremd gebliebene,
Brief Jeremia mit zu dieser Einheit gehörte. Hieronymus spricht in diesem
Punkte, wie so oft, dem Origenes nach, schränkt jedoch seine Behauptung
in der Beziehung ein, daß er auch das wirkliche, ihm genau bekannte. Verhält¬
niß angiebt, wonach die Klagelieder im hebräischen Text als besonderes Buch
unter den Hagiographen stehn. Die jüdische Ueberlieferung weiß absolut nichts
davon, daß das Büchlein je eine andre Stelle gehabt haben sollte. Die Au¬
torität der griechischen und römischen Kirche ist natürlich für unsre Frage voll¬
ständig nichtig: sie folgte einfach dem griechischen Text hier, wie in Bezug auf
das Buch Baruch und in andern Fällen.

Josephus als Autorität für solche Dinge anzuführen, sollte man sich über-
Haupt hüten. In Bezug auf die Klagelieder können wir noch nachweisen, wo¬
her seine Meinung von der jeremianischen Abfassung gekommen ist. Im zweiten
Buch der Chronik 35, 26 heißt es, Jeremia habe auf den Tod des frommen
Königs Josia Klagelieder gedichtet, welche von den Sängern und Sängerinnen
"bis heute" vorgetragen würden und im Buch der Klagelieder ständen.
Josephus verstand dies von unsern Klageliedern und sagt deshalb, Jeremia
habe die Elegie auf den Josia gedichtet. Wie verkehrt die Beziehung der Klage¬
lieder auf Josia ist, zeigt schon ein flüchtiger Blick. Ich halte es allerdings
nicht für unmöglich, daß auch die Chronik, wie sicher Josephus, nicht ein altes
verlorenes, sondern unser Buch im Auge hatte. Im 4. Liede V. 20 wird von
dem unglücklichen König in solchen Ausdrücken geredet, daß man sich später
scheuen mußte, diese auf den gottlosen Zedekia zu beziehen, den sie allerdings
betreffen. Es lag daher nahe, sie auf den letzten frommen König zu deuten,
der ja auch vor der Zeit vom Unglück dahin gerafft war; so sah die Sache
offenbar Josephus an und eine solche Ansicht kann auch dem kritiklosen Com-
Pilator der Chronik wohl zugemuthet werden. Ist dem nicht so, so muß man
annehmen, daß der Chronist hier, wie so oft, eine weit ältere Quelle gedanken¬
los ausschreibt, denn daß es zu seiner Zeit keine Klagegesänge Jeremias auf
Josia gab. ist so gut wie sicher. Unter allen Umständen hat daher die Stelle
der Chronik für unsre Frage keine Bedeutung, und natürlich noch weniger die
daraus abgeleitete des Josephus.

Die Ueberlieferung kommt also auf eine, immerhin alte und nicht unge¬
schickte, Vermuthung zurück, welche vor einer schärfern Kritik nicht bestehen
kann. Zuerst haben wir nämlich zu constatiren, daß die fünf Klagelieder nicht
von einem und demselben Verfasser herrühren. Das Verdienst, diese Thatsache
sorgfältig nachgewiesen zu haben, gebührt dem besonnenen und umsichtigen
Thenius. Man hatte die Einheit des Verfassers fast immer als selbstverständ¬
lich angesehen, und Exegeten ersten Ranges haben sogar bis in die neuste Zeit


ten, aber diese Angabe beruht sehr wahrscheinlich auf einem Fehler, wie sicher
die, daß auch der, dem hebräischen Text stets vollkommen fremd gebliebene,
Brief Jeremia mit zu dieser Einheit gehörte. Hieronymus spricht in diesem
Punkte, wie so oft, dem Origenes nach, schränkt jedoch seine Behauptung
in der Beziehung ein, daß er auch das wirkliche, ihm genau bekannte. Verhält¬
niß angiebt, wonach die Klagelieder im hebräischen Text als besonderes Buch
unter den Hagiographen stehn. Die jüdische Ueberlieferung weiß absolut nichts
davon, daß das Büchlein je eine andre Stelle gehabt haben sollte. Die Au¬
torität der griechischen und römischen Kirche ist natürlich für unsre Frage voll¬
ständig nichtig: sie folgte einfach dem griechischen Text hier, wie in Bezug auf
das Buch Baruch und in andern Fällen.

Josephus als Autorität für solche Dinge anzuführen, sollte man sich über-
Haupt hüten. In Bezug auf die Klagelieder können wir noch nachweisen, wo¬
her seine Meinung von der jeremianischen Abfassung gekommen ist. Im zweiten
Buch der Chronik 35, 26 heißt es, Jeremia habe auf den Tod des frommen
Königs Josia Klagelieder gedichtet, welche von den Sängern und Sängerinnen
„bis heute" vorgetragen würden und im Buch der Klagelieder ständen.
Josephus verstand dies von unsern Klageliedern und sagt deshalb, Jeremia
habe die Elegie auf den Josia gedichtet. Wie verkehrt die Beziehung der Klage¬
lieder auf Josia ist, zeigt schon ein flüchtiger Blick. Ich halte es allerdings
nicht für unmöglich, daß auch die Chronik, wie sicher Josephus, nicht ein altes
verlorenes, sondern unser Buch im Auge hatte. Im 4. Liede V. 20 wird von
dem unglücklichen König in solchen Ausdrücken geredet, daß man sich später
scheuen mußte, diese auf den gottlosen Zedekia zu beziehen, den sie allerdings
betreffen. Es lag daher nahe, sie auf den letzten frommen König zu deuten,
der ja auch vor der Zeit vom Unglück dahin gerafft war; so sah die Sache
offenbar Josephus an und eine solche Ansicht kann auch dem kritiklosen Com-
Pilator der Chronik wohl zugemuthet werden. Ist dem nicht so, so muß man
annehmen, daß der Chronist hier, wie so oft, eine weit ältere Quelle gedanken¬
los ausschreibt, denn daß es zu seiner Zeit keine Klagegesänge Jeremias auf
Josia gab. ist so gut wie sicher. Unter allen Umständen hat daher die Stelle
der Chronik für unsre Frage keine Bedeutung, und natürlich noch weniger die
daraus abgeleitete des Josephus.

Die Ueberlieferung kommt also auf eine, immerhin alte und nicht unge¬
schickte, Vermuthung zurück, welche vor einer schärfern Kritik nicht bestehen
kann. Zuerst haben wir nämlich zu constatiren, daß die fünf Klagelieder nicht
von einem und demselben Verfasser herrühren. Das Verdienst, diese Thatsache
sorgfältig nachgewiesen zu haben, gebührt dem besonnenen und umsichtigen
Thenius. Man hatte die Einheit des Verfassers fast immer als selbstverständ¬
lich angesehen, und Exegeten ersten Ranges haben sogar bis in die neuste Zeit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/417>, abgerufen am 28.07.2024.