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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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wandert. Auch hier ist seines Bleibens nicht lange. Wieder zieht er nach
Zürich, setzt das erst in Schlettstadt wirklich einigermaßen begonnene Studiren
fort und lernt daneben das Seilerhandwerk, um sich zu nähren. Dann noch¬
mals auf in die Fremde, nach Basel. Endlich zurück nach Zürich, wo der
Vielgewanderte nun sitzen bleibt, sich verheirathet, Seilermeister wird und da¬
neben eine Gelehrtenschule hält, in der er neben dem Latein auch Griechisch und
Hebräisch lehrt. Der Weg bis dahin ist ein Weg durch Noth und Elend, Mißhand-
lung und Gefahr aller Art, und wir bewundern die gute Natur, die auf ihm nicht zu
Grunde gegangen ist. Die ersten sechs oder sieben Jahre ist sein Hauptgeschäft die
Versorgung seines rohen und groben Bachanten durch Bettel, wofür das arme Kind
nur Schläge und Fußtritte erntet und nicht einmal lesen lernt. Oft übernachten die
Wandrer im freien Felde, leben tagelang nur von rohen Zwiebeln, Holzäpfeln und
gebratnen Eicheln, bisweilen von Gänsen, welche die Schützen den Bauern stehlen,
und haben allerhand Gefahren zu bestehen. In Breslau finden sie Tausende
Ihresgleichen, darunter viele Schwaben und Schweizer, aber in der Schule
nur ein einziges gedrucktes Buch. Die Herbergen der Schützen und Bachanten
sind voll Ungeziefer. In München läßt man die jedenfalls Zerlumpten nur wenn
jemand sich für sie verbürgt ins Thor. Mitunter erbarmt sich ein Gutherziger
des Knaben und behält ihn bei sich. Erst spät gestattet die Sorge um das
tägliche Brod das eigentliche Ziel der Wanderschaft ins Auge zu fassen. Daß
es erreicht wird, erscheint fast wie ein Wunder und ist jedenfalls eine Ausnahme
von der Negel. Andere verdarben, und darunter auch besserer Leute Kind als
unser Platter, verkamen in Hunger und Siechthum hinter einer Hecke, ersoffen in
dem Saus und Braus der Zechgesellen unter den Studenten einer Universität, fielen
erstochen in einer Rauferei oder folgten zuletzt der Werbetrommel der Landsknechte.

Manche scheinen nur im Winter, wo eS sich schlecht reiste, an einem Orte
geblieben zu sein und studirt zu haben. "Um Reminiscere," heißt es in einem
Reim des siebzehnten Jahrhunderts, welcher aus dem vorhergehenden Säculum
stammen kann, "wollen sie nicht mehr äisesrö, auf Oculi begehren die Bücher
nicht sie, auf Lätare gehen sie aus dem Thore, auf Judica seynd sie in ihrem
Mria, auf Palmarum haben sie xar xarum." Und in einer andern Schilderung
der fahrenden Scholaster lesen wir: "Sobald der Schnee abgeht, blasen sie
ihr Federlein auf und sehen, wo sie das hinweiset, etwan in ein Land, wo
sie gute Herren finden, die ihnen viel zu essen und wenig zu thun geben, und
lassen sie viel schlafen. Es schlagen sich wohl ihrer mehre zusammen, lernen
etliche Stücklein fertig singen und brauchen das darnach in den Städten und
Dörfern, wenn man's ihnen nur vergönnt; oder nehmen ein Evangeliumbüchlein
und lesen die Evangelia vor der Bauern Thüren. Will man ihnen nichts geben,
nehmen sie es heimlich weg und lernen so nach und nach stehlen"/)



') Dolch, S. 116.

wandert. Auch hier ist seines Bleibens nicht lange. Wieder zieht er nach
Zürich, setzt das erst in Schlettstadt wirklich einigermaßen begonnene Studiren
fort und lernt daneben das Seilerhandwerk, um sich zu nähren. Dann noch¬
mals auf in die Fremde, nach Basel. Endlich zurück nach Zürich, wo der
Vielgewanderte nun sitzen bleibt, sich verheirathet, Seilermeister wird und da¬
neben eine Gelehrtenschule hält, in der er neben dem Latein auch Griechisch und
Hebräisch lehrt. Der Weg bis dahin ist ein Weg durch Noth und Elend, Mißhand-
lung und Gefahr aller Art, und wir bewundern die gute Natur, die auf ihm nicht zu
Grunde gegangen ist. Die ersten sechs oder sieben Jahre ist sein Hauptgeschäft die
Versorgung seines rohen und groben Bachanten durch Bettel, wofür das arme Kind
nur Schläge und Fußtritte erntet und nicht einmal lesen lernt. Oft übernachten die
Wandrer im freien Felde, leben tagelang nur von rohen Zwiebeln, Holzäpfeln und
gebratnen Eicheln, bisweilen von Gänsen, welche die Schützen den Bauern stehlen,
und haben allerhand Gefahren zu bestehen. In Breslau finden sie Tausende
Ihresgleichen, darunter viele Schwaben und Schweizer, aber in der Schule
nur ein einziges gedrucktes Buch. Die Herbergen der Schützen und Bachanten
sind voll Ungeziefer. In München läßt man die jedenfalls Zerlumpten nur wenn
jemand sich für sie verbürgt ins Thor. Mitunter erbarmt sich ein Gutherziger
des Knaben und behält ihn bei sich. Erst spät gestattet die Sorge um das
tägliche Brod das eigentliche Ziel der Wanderschaft ins Auge zu fassen. Daß
es erreicht wird, erscheint fast wie ein Wunder und ist jedenfalls eine Ausnahme
von der Negel. Andere verdarben, und darunter auch besserer Leute Kind als
unser Platter, verkamen in Hunger und Siechthum hinter einer Hecke, ersoffen in
dem Saus und Braus der Zechgesellen unter den Studenten einer Universität, fielen
erstochen in einer Rauferei oder folgten zuletzt der Werbetrommel der Landsknechte.

Manche scheinen nur im Winter, wo eS sich schlecht reiste, an einem Orte
geblieben zu sein und studirt zu haben. „Um Reminiscere," heißt es in einem
Reim des siebzehnten Jahrhunderts, welcher aus dem vorhergehenden Säculum
stammen kann, „wollen sie nicht mehr äisesrö, auf Oculi begehren die Bücher
nicht sie, auf Lätare gehen sie aus dem Thore, auf Judica seynd sie in ihrem
Mria, auf Palmarum haben sie xar xarum." Und in einer andern Schilderung
der fahrenden Scholaster lesen wir: »Sobald der Schnee abgeht, blasen sie
ihr Federlein auf und sehen, wo sie das hinweiset, etwan in ein Land, wo
sie gute Herren finden, die ihnen viel zu essen und wenig zu thun geben, und
lassen sie viel schlafen. Es schlagen sich wohl ihrer mehre zusammen, lernen
etliche Stücklein fertig singen und brauchen das darnach in den Städten und
Dörfern, wenn man's ihnen nur vergönnt; oder nehmen ein Evangeliumbüchlein
und lesen die Evangelia vor der Bauern Thüren. Will man ihnen nichts geben,
nehmen sie es heimlich weg und lernen so nach und nach stehlen"/)



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[0366] wandert. Auch hier ist seines Bleibens nicht lange. Wieder zieht er nach Zürich, setzt das erst in Schlettstadt wirklich einigermaßen begonnene Studiren fort und lernt daneben das Seilerhandwerk, um sich zu nähren. Dann noch¬ mals auf in die Fremde, nach Basel. Endlich zurück nach Zürich, wo der Vielgewanderte nun sitzen bleibt, sich verheirathet, Seilermeister wird und da¬ neben eine Gelehrtenschule hält, in der er neben dem Latein auch Griechisch und Hebräisch lehrt. Der Weg bis dahin ist ein Weg durch Noth und Elend, Mißhand- lung und Gefahr aller Art, und wir bewundern die gute Natur, die auf ihm nicht zu Grunde gegangen ist. Die ersten sechs oder sieben Jahre ist sein Hauptgeschäft die Versorgung seines rohen und groben Bachanten durch Bettel, wofür das arme Kind nur Schläge und Fußtritte erntet und nicht einmal lesen lernt. Oft übernachten die Wandrer im freien Felde, leben tagelang nur von rohen Zwiebeln, Holzäpfeln und gebratnen Eicheln, bisweilen von Gänsen, welche die Schützen den Bauern stehlen, und haben allerhand Gefahren zu bestehen. In Breslau finden sie Tausende Ihresgleichen, darunter viele Schwaben und Schweizer, aber in der Schule nur ein einziges gedrucktes Buch. Die Herbergen der Schützen und Bachanten sind voll Ungeziefer. In München läßt man die jedenfalls Zerlumpten nur wenn jemand sich für sie verbürgt ins Thor. Mitunter erbarmt sich ein Gutherziger des Knaben und behält ihn bei sich. Erst spät gestattet die Sorge um das tägliche Brod das eigentliche Ziel der Wanderschaft ins Auge zu fassen. Daß es erreicht wird, erscheint fast wie ein Wunder und ist jedenfalls eine Ausnahme von der Negel. Andere verdarben, und darunter auch besserer Leute Kind als unser Platter, verkamen in Hunger und Siechthum hinter einer Hecke, ersoffen in dem Saus und Braus der Zechgesellen unter den Studenten einer Universität, fielen erstochen in einer Rauferei oder folgten zuletzt der Werbetrommel der Landsknechte. Manche scheinen nur im Winter, wo eS sich schlecht reiste, an einem Orte geblieben zu sein und studirt zu haben. „Um Reminiscere," heißt es in einem Reim des siebzehnten Jahrhunderts, welcher aus dem vorhergehenden Säculum stammen kann, „wollen sie nicht mehr äisesrö, auf Oculi begehren die Bücher nicht sie, auf Lätare gehen sie aus dem Thore, auf Judica seynd sie in ihrem Mria, auf Palmarum haben sie xar xarum." Und in einer andern Schilderung der fahrenden Scholaster lesen wir: »Sobald der Schnee abgeht, blasen sie ihr Federlein auf und sehen, wo sie das hinweiset, etwan in ein Land, wo sie gute Herren finden, die ihnen viel zu essen und wenig zu thun geben, und lassen sie viel schlafen. Es schlagen sich wohl ihrer mehre zusammen, lernen etliche Stücklein fertig singen und brauchen das darnach in den Städten und Dörfern, wenn man's ihnen nur vergönnt; oder nehmen ein Evangeliumbüchlein und lesen die Evangelia vor der Bauern Thüren. Will man ihnen nichts geben, nehmen sie es heimlich weg und lernen so nach und nach stehlen"/) ') Dolch, S. 116.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/366>, abgerufen am 28.07.2024.