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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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Während die Einen sich von den Feldhhauptleuten der Landsknechte anwerben
ließen, um in deren Fähnlein nach dem Land Italia hinunterzufahren und in
den Schlachten und Stürmen gegen die Welschen Beute zu gewinnen, stand
der Sinn der Andern nach friedlicherem Erwerb, nach dem Wissen der Schulen
und Universitäten oder wenigstens nach dem der ersteren und nach den Ehren
und sonstigen Ertlägnissen solchen Wissens. Dasselbe war wohlfeiler zu haben
als das, was die vornehmen Universitäten boten, aber andrerseits konnte die
Heimath dem zur Schule Wandernden meist wenig oder nichts mitgeben, und
so war derselbe gewöhnlich von vornherein auf die öffentliche Mildthätigkeit
angewiesen, und sein erster Schritt in das Gebiet der gelehrten Welt war zu¬
gleich der erste in die Noth und die Gefahr des Vagantcnlebens hinein. Massen¬
weise drängten sich diese Bettelstudenten zu den alten und zu den neuen Schul¬
meistern. Waren die frommen Stiftungen deS Ortes, wo die Schule sich befand,
oder die dortige Privatwohlthätigkeit ausgenutzt, so zog der Bachant weiter,
um anderswo sein Heil zu versuchen. Zuweilen trieb ihn auch der Ruf eines
neuen Lehrers oder das Gerücht, daß in einer andern Stadt mehr als in der,
wo er saß, etwa Griechisch oder gar Hebräisch zu lernen sei, wieder in die
Ferne, oft viele Meilen und Tagereisen weit. Sehr Viele schweiften wohl auch,
von angebornem oder allmälig zur zweiten Natur gewordenem Vagabundengeist
getrieben, Jahrzehnte lang von Schule zu Schule und sanken so in kürzerer
oder längerer Frist vollkommen in die vorher geschilderte Classe der fahrenden
Schüler hinab. Alle endlich mußten mehr oder minder an sich erfahren, daß ein
langes Wanderleben die Sitten verwildert, und daß das Studiren vor allen
Dingen Sitzfleisch erfordert.

Ein höchst anschauliches Bild von dem Treiben dieser Gattung der fahren¬
den Schüler hat uns der Schweizer Thomas Platter, der aus der Schwelle vom
Mittelalter zur Neuzeit, etwa zugleich mit dem ebenfalls in gewissem Maß hier¬
her gehörenden Hütten, seine Wanderung vom Hirtenbuben zur Lehrkanzel des
Professors antrat, in seiner Selbstbiographie hinterlassen. Erst als kleiner
"Schütz", d. h. als Abcschüler und Famulus eines "Bachanten", d. h. eines
bereits auf Schulen gewesenen älteren Studirenden, den er durch "Präsentiren",
d. h. durch Zutragen von ihm erbettelter Gaben zu ernähren hat. dann, diesem
Tyrannen entflohen und selbständig geworden, durchzieht er acht Jahre lang
unen großen Theil Süd- und Mitteldeutschlands. Gleich die erste Fahrt führt
den zehnjährigen Knaben Von dem Visperthal in Wallis und dann von Luzern
hinab, über Nürnberg, Naumburg und Dresden nach Breslau. Später geht
es nach Süddeutschland zurück, nach München und Ulm und wieder nach München
Und abermals nach Ulm, dann nach Freisingen, von da nochmals nach Ulm,
hierauf nach Constanz und von hier nach Zürich, von wo der nunmehr zum
Jüngling herangewachsene Platter zu dem Humanisten Sapidus nach Schlettstadt


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Während die Einen sich von den Feldhhauptleuten der Landsknechte anwerben
ließen, um in deren Fähnlein nach dem Land Italia hinunterzufahren und in
den Schlachten und Stürmen gegen die Welschen Beute zu gewinnen, stand
der Sinn der Andern nach friedlicherem Erwerb, nach dem Wissen der Schulen
und Universitäten oder wenigstens nach dem der ersteren und nach den Ehren
und sonstigen Ertlägnissen solchen Wissens. Dasselbe war wohlfeiler zu haben
als das, was die vornehmen Universitäten boten, aber andrerseits konnte die
Heimath dem zur Schule Wandernden meist wenig oder nichts mitgeben, und
so war derselbe gewöhnlich von vornherein auf die öffentliche Mildthätigkeit
angewiesen, und sein erster Schritt in das Gebiet der gelehrten Welt war zu¬
gleich der erste in die Noth und die Gefahr des Vagantcnlebens hinein. Massen¬
weise drängten sich diese Bettelstudenten zu den alten und zu den neuen Schul¬
meistern. Waren die frommen Stiftungen deS Ortes, wo die Schule sich befand,
oder die dortige Privatwohlthätigkeit ausgenutzt, so zog der Bachant weiter,
um anderswo sein Heil zu versuchen. Zuweilen trieb ihn auch der Ruf eines
neuen Lehrers oder das Gerücht, daß in einer andern Stadt mehr als in der,
wo er saß, etwa Griechisch oder gar Hebräisch zu lernen sei, wieder in die
Ferne, oft viele Meilen und Tagereisen weit. Sehr Viele schweiften wohl auch,
von angebornem oder allmälig zur zweiten Natur gewordenem Vagabundengeist
getrieben, Jahrzehnte lang von Schule zu Schule und sanken so in kürzerer
oder längerer Frist vollkommen in die vorher geschilderte Classe der fahrenden
Schüler hinab. Alle endlich mußten mehr oder minder an sich erfahren, daß ein
langes Wanderleben die Sitten verwildert, und daß das Studiren vor allen
Dingen Sitzfleisch erfordert.

Ein höchst anschauliches Bild von dem Treiben dieser Gattung der fahren¬
den Schüler hat uns der Schweizer Thomas Platter, der aus der Schwelle vom
Mittelalter zur Neuzeit, etwa zugleich mit dem ebenfalls in gewissem Maß hier¬
her gehörenden Hütten, seine Wanderung vom Hirtenbuben zur Lehrkanzel des
Professors antrat, in seiner Selbstbiographie hinterlassen. Erst als kleiner
«Schütz", d. h. als Abcschüler und Famulus eines „Bachanten", d. h. eines
bereits auf Schulen gewesenen älteren Studirenden, den er durch „Präsentiren",
d. h. durch Zutragen von ihm erbettelter Gaben zu ernähren hat. dann, diesem
Tyrannen entflohen und selbständig geworden, durchzieht er acht Jahre lang
unen großen Theil Süd- und Mitteldeutschlands. Gleich die erste Fahrt führt
den zehnjährigen Knaben Von dem Visperthal in Wallis und dann von Luzern
hinab, über Nürnberg, Naumburg und Dresden nach Breslau. Später geht
es nach Süddeutschland zurück, nach München und Ulm und wieder nach München
Und abermals nach Ulm, dann nach Freisingen, von da nochmals nach Ulm,
hierauf nach Constanz und von hier nach Zürich, von wo der nunmehr zum
Jüngling herangewachsene Platter zu dem Humanisten Sapidus nach Schlettstadt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/365>, abgerufen am 28.07.2024.