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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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sind, den Schauplatz ihres Treibens sofort in eine andere Gegend verlegten,
und daß die Militärbehörde davon erst dann Kunde erhielte, wenn die Plünderung
der ersten Ortschaften schon gelungen wäre.

So kommt es, daß wegen einiger hundert Menschen, die, des Landes
kundig, von Wegweisern und Kundschaftern gut bedient, sich mit Leichtigkeit
bewegen.'fast ganz Süditalien militärisch besetzt gehalten werden muß. und so
besteht die Aufgabe der hier stationirten Truppen nicht so sehr im Kampfe, als
in einem steten Hin- und Herziehen. Zu einem Zusammenstoße und zu einer
verzweifelten Vertheidigung der Räuber kommt es nur dann, wenn letztere in
irgendeinem Passe oder einem entlegenen Gebirgsdorfe eingeschlossen werden.

Der eigentliche Grund des Brigantaccio liegt, wie Massari überzeugend
nachgewiesen hat, in der durch eine lange Mißregierung hervorgerufenen Armuth und
Verwilderung der niedern Classen im ehemaligen Königreich Neapel. Die socialen
und ökonomischen Verhältnisse des gemeinen Volkes sind besonders in den
Gegenden, wo das Räubcrwesen seine Hauptnester hat, überaus traurig. Wo
viele kleine Grundbesitzer leben wie bei Reggio im südlichen Calabrien, da
giebt es keine oder doch nur selten Briganten, wo Geistlichkeit und Adel
alles Land besitzen, nur Pächter und Tagelöhner neben diesen und den
Bürgern der kleinen Städte wohnen, ist nothwendig die Zahl der Eigen¬
thums- und Erwerbslosen sehr groß. So in der Capitanata, wo man
die sogenannten "teriÄsaiü" in Menge findet, eine Volksclasse, die im
strengsten Wortsinn nichts ihr eigen nennt und rein vom Diebstahl lebt. Unter
den 375 Räubern, welche 1860 die Kerker dieser Provinz Italiens füllten,
gehörten 293 jener mit dem Worte "draeeiauti" bezeichneten Tagclöhnerschaft
an. welche von einem Tage zum andern fortlebt, ohne irgendeine sichere
Beschäftigung zu haben. Das Volk ist nicht, wie man behauptet hat. arbeits¬
scheu, es findet nur selten genügende Gelegenheit, zu arbeiten. Als die neue Re¬
gierung mit Hebung des Verkehrs begann, fand sie es bereit, sie durch Arbeit
zu unterstützen, und man litt beim Bau der Eisenbahnen und andrer öffentlicher
Werke keinen Mangel an fleißigen Händen. Wo die Masse aber Beschäftigung
fand, da ließ auch das Brigantenwesen nach. Mehr für Hebung von Ackerbau
und Industrie zu sorgen, ist daher die Aufgabe der Negierung. welche die
Räuberbanden verschwinden sehen will. Der gute Wille dazu ist vorhanden, aber
die Verderbniß und der moralische Schmutz, den die Bourbonenregierung zurück¬
gelassen hat, sind ungeheuer, und wie Rom nicht an einem Tage gebaut wurde,
so läßt sich auch hier nur allmälig eine bessere Zukunft anbahnen.

Allerdings gäbe es ein Mittel, dem Brigantaccio ein sofortiges Ende zu
machen. Oberst Manhös unter Murat schlug dasselbe durch drakonische Edicte.
welche das Volk von fernerer Unterstützung der Räuber abschreckten, und durch
einige unbarmherzig über Zuwiderhandelnde verhängte Hinrichtungen in wenigen


sind, den Schauplatz ihres Treibens sofort in eine andere Gegend verlegten,
und daß die Militärbehörde davon erst dann Kunde erhielte, wenn die Plünderung
der ersten Ortschaften schon gelungen wäre.

So kommt es, daß wegen einiger hundert Menschen, die, des Landes
kundig, von Wegweisern und Kundschaftern gut bedient, sich mit Leichtigkeit
bewegen.'fast ganz Süditalien militärisch besetzt gehalten werden muß. und so
besteht die Aufgabe der hier stationirten Truppen nicht so sehr im Kampfe, als
in einem steten Hin- und Herziehen. Zu einem Zusammenstoße und zu einer
verzweifelten Vertheidigung der Räuber kommt es nur dann, wenn letztere in
irgendeinem Passe oder einem entlegenen Gebirgsdorfe eingeschlossen werden.

Der eigentliche Grund des Brigantaccio liegt, wie Massari überzeugend
nachgewiesen hat, in der durch eine lange Mißregierung hervorgerufenen Armuth und
Verwilderung der niedern Classen im ehemaligen Königreich Neapel. Die socialen
und ökonomischen Verhältnisse des gemeinen Volkes sind besonders in den
Gegenden, wo das Räubcrwesen seine Hauptnester hat, überaus traurig. Wo
viele kleine Grundbesitzer leben wie bei Reggio im südlichen Calabrien, da
giebt es keine oder doch nur selten Briganten, wo Geistlichkeit und Adel
alles Land besitzen, nur Pächter und Tagelöhner neben diesen und den
Bürgern der kleinen Städte wohnen, ist nothwendig die Zahl der Eigen¬
thums- und Erwerbslosen sehr groß. So in der Capitanata, wo man
die sogenannten „teriÄsaiü" in Menge findet, eine Volksclasse, die im
strengsten Wortsinn nichts ihr eigen nennt und rein vom Diebstahl lebt. Unter
den 375 Räubern, welche 1860 die Kerker dieser Provinz Italiens füllten,
gehörten 293 jener mit dem Worte „draeeiauti" bezeichneten Tagclöhnerschaft
an. welche von einem Tage zum andern fortlebt, ohne irgendeine sichere
Beschäftigung zu haben. Das Volk ist nicht, wie man behauptet hat. arbeits¬
scheu, es findet nur selten genügende Gelegenheit, zu arbeiten. Als die neue Re¬
gierung mit Hebung des Verkehrs begann, fand sie es bereit, sie durch Arbeit
zu unterstützen, und man litt beim Bau der Eisenbahnen und andrer öffentlicher
Werke keinen Mangel an fleißigen Händen. Wo die Masse aber Beschäftigung
fand, da ließ auch das Brigantenwesen nach. Mehr für Hebung von Ackerbau
und Industrie zu sorgen, ist daher die Aufgabe der Negierung. welche die
Räuberbanden verschwinden sehen will. Der gute Wille dazu ist vorhanden, aber
die Verderbniß und der moralische Schmutz, den die Bourbonenregierung zurück¬
gelassen hat, sind ungeheuer, und wie Rom nicht an einem Tage gebaut wurde,
so läßt sich auch hier nur allmälig eine bessere Zukunft anbahnen.

Allerdings gäbe es ein Mittel, dem Brigantaccio ein sofortiges Ende zu
machen. Oberst Manhös unter Murat schlug dasselbe durch drakonische Edicte.
welche das Volk von fernerer Unterstützung der Räuber abschreckten, und durch
einige unbarmherzig über Zuwiderhandelnde verhängte Hinrichtungen in wenigen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/283>, abgerufen am 28.07.2024.