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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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seiner Gegner zu dieser bedenklichen Stellung zu erheben? Schon aus diesem
Grunde ist es mehr als zweifelhaft, daß Napoleon in Thiers den geeigneten
Mann sieht, ihn bei einer etwaigen Modifikation seines Systems in liberalem
Sinne, falls die Umstände ihm eine solche aufnöthigen sollten, zu Rathe zu
ziehen.

Ziehen wir die Resultate unserer Betrachtung, so ergiebt sich, daß die Lage,
in welcher der Kaiser zwischen den Parteien sich befindet, mit ernsten Gefahren ver¬
bunden ist. Die dem gesetzgebenden Körper gewährten Befugnisse befriedigen
keineswegs, sind aber grade ausreichend, um der Mißstimmung im Lande ein
Centrum und ein Sprachrohr zu geben, und dieselbe lebendig zu erhalten und
zu fördern. Eine Erweiterung der Befugnisse des Parlaments würde möglicher¬
weise zu einem Kampfe führen, dessen Ausgang unberechenbar ist. Zu wesent¬
lichen Concessionen an das parlamentarische System wird sich Napoleon daher
nur herbeilassen, wenn er sie nicht länger verweigern kann. Zunächst wird
seine Thätigkeit dahin gerichtet sein, diesen Zeitpunkt so weit als möglich hinaus¬
zuschieben und die Masse des Volkes durch möglichste Befriedigung seiner ma¬
teriellen Bedürfnisse an sich zu ziehen, und, im äußersten Falle, ihr nach außen
hin Beschäftigung zu verschaffen, ein Mittel, das indessen bei der außerordentlich
großen Anzahl kleiner Capitalisten, die von einem Kriege eine Entwerthung der
Renten zu fürchten haben, sehr bedenklich ist. Indessen sind dies lauter Palliativ¬
mittel, die den revolutionären Geist so wenig versöhnen werden, wie das schärfste
Regiment ihn zu bändigen vermag. Ihn zu bannen giebt es nur ein Radical-
mittel, Emancipation der Localverwaltung von der Staatsgewalt und Bildung
des Volkes zur Freiheit von unten aus. Nur aus diese Weise kann es gelingen,
die verderbliche Vorstellung auszurotten, daß das Wesen der Freiheit in einem
stetigen Kampfe gegen oder um die Staatsgewalt bestehe, eine Borstellung, die
ihre natürliche Ergänzung darin findet, daß die Staatsgewalt ihre Aufgabe als
einen Kampf gegen die Freiheit, oder wie sie es ausdrückt, gegen die Anarchie
auffaßt. Wenn der Despotismus glaubt, die Franzosen wie ein verkommenes
und versumpftes Geschlecht behandeln und durch Gewährung materieller Vor¬
theile, sowie durch ein geistiges Nivellirungssystem gängeln zu können, so be¬
findet er sich in einem verhängnißvollen Irrthume. Das Feuer glimmt unter
der Asche, aber es ist vulkanisch, revolutionär. ES ist kaum zu zweifeln, daß
der Kaiser die Einsicht in diese Lage der Dinge besitzt. Sollte es ihm an der
Macht fehlen, in geduldiger zäher Arbeit, wie sie seinem Charakter entspricht,
sein Volk zu einem ruhigen und festen Besitze des höchsten politischen und sitt¬
lichen Gutes fähig zu machen? So lange die tüchtigsten Kräfte, die mehr zu
sein beanspruchen als geschickte Organe seines Willens (an geschickten Organen
fehlt es in dem classischen Lande der administrativen Routine natürlich keinem
Herrscher) sich von ihm fern halten, und fern halten müssen, kann man aller-


seiner Gegner zu dieser bedenklichen Stellung zu erheben? Schon aus diesem
Grunde ist es mehr als zweifelhaft, daß Napoleon in Thiers den geeigneten
Mann sieht, ihn bei einer etwaigen Modifikation seines Systems in liberalem
Sinne, falls die Umstände ihm eine solche aufnöthigen sollten, zu Rathe zu
ziehen.

Ziehen wir die Resultate unserer Betrachtung, so ergiebt sich, daß die Lage,
in welcher der Kaiser zwischen den Parteien sich befindet, mit ernsten Gefahren ver¬
bunden ist. Die dem gesetzgebenden Körper gewährten Befugnisse befriedigen
keineswegs, sind aber grade ausreichend, um der Mißstimmung im Lande ein
Centrum und ein Sprachrohr zu geben, und dieselbe lebendig zu erhalten und
zu fördern. Eine Erweiterung der Befugnisse des Parlaments würde möglicher¬
weise zu einem Kampfe führen, dessen Ausgang unberechenbar ist. Zu wesent¬
lichen Concessionen an das parlamentarische System wird sich Napoleon daher
nur herbeilassen, wenn er sie nicht länger verweigern kann. Zunächst wird
seine Thätigkeit dahin gerichtet sein, diesen Zeitpunkt so weit als möglich hinaus¬
zuschieben und die Masse des Volkes durch möglichste Befriedigung seiner ma¬
teriellen Bedürfnisse an sich zu ziehen, und, im äußersten Falle, ihr nach außen
hin Beschäftigung zu verschaffen, ein Mittel, das indessen bei der außerordentlich
großen Anzahl kleiner Capitalisten, die von einem Kriege eine Entwerthung der
Renten zu fürchten haben, sehr bedenklich ist. Indessen sind dies lauter Palliativ¬
mittel, die den revolutionären Geist so wenig versöhnen werden, wie das schärfste
Regiment ihn zu bändigen vermag. Ihn zu bannen giebt es nur ein Radical-
mittel, Emancipation der Localverwaltung von der Staatsgewalt und Bildung
des Volkes zur Freiheit von unten aus. Nur aus diese Weise kann es gelingen,
die verderbliche Vorstellung auszurotten, daß das Wesen der Freiheit in einem
stetigen Kampfe gegen oder um die Staatsgewalt bestehe, eine Borstellung, die
ihre natürliche Ergänzung darin findet, daß die Staatsgewalt ihre Aufgabe als
einen Kampf gegen die Freiheit, oder wie sie es ausdrückt, gegen die Anarchie
auffaßt. Wenn der Despotismus glaubt, die Franzosen wie ein verkommenes
und versumpftes Geschlecht behandeln und durch Gewährung materieller Vor¬
theile, sowie durch ein geistiges Nivellirungssystem gängeln zu können, so be¬
findet er sich in einem verhängnißvollen Irrthume. Das Feuer glimmt unter
der Asche, aber es ist vulkanisch, revolutionär. ES ist kaum zu zweifeln, daß
der Kaiser die Einsicht in diese Lage der Dinge besitzt. Sollte es ihm an der
Macht fehlen, in geduldiger zäher Arbeit, wie sie seinem Charakter entspricht,
sein Volk zu einem ruhigen und festen Besitze des höchsten politischen und sitt¬
lichen Gutes fähig zu machen? So lange die tüchtigsten Kräfte, die mehr zu
sein beanspruchen als geschickte Organe seines Willens (an geschickten Organen
fehlt es in dem classischen Lande der administrativen Routine natürlich keinem
Herrscher) sich von ihm fern halten, und fern halten müssen, kann man aller-


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[0272] seiner Gegner zu dieser bedenklichen Stellung zu erheben? Schon aus diesem Grunde ist es mehr als zweifelhaft, daß Napoleon in Thiers den geeigneten Mann sieht, ihn bei einer etwaigen Modifikation seines Systems in liberalem Sinne, falls die Umstände ihm eine solche aufnöthigen sollten, zu Rathe zu ziehen. Ziehen wir die Resultate unserer Betrachtung, so ergiebt sich, daß die Lage, in welcher der Kaiser zwischen den Parteien sich befindet, mit ernsten Gefahren ver¬ bunden ist. Die dem gesetzgebenden Körper gewährten Befugnisse befriedigen keineswegs, sind aber grade ausreichend, um der Mißstimmung im Lande ein Centrum und ein Sprachrohr zu geben, und dieselbe lebendig zu erhalten und zu fördern. Eine Erweiterung der Befugnisse des Parlaments würde möglicher¬ weise zu einem Kampfe führen, dessen Ausgang unberechenbar ist. Zu wesent¬ lichen Concessionen an das parlamentarische System wird sich Napoleon daher nur herbeilassen, wenn er sie nicht länger verweigern kann. Zunächst wird seine Thätigkeit dahin gerichtet sein, diesen Zeitpunkt so weit als möglich hinaus¬ zuschieben und die Masse des Volkes durch möglichste Befriedigung seiner ma¬ teriellen Bedürfnisse an sich zu ziehen, und, im äußersten Falle, ihr nach außen hin Beschäftigung zu verschaffen, ein Mittel, das indessen bei der außerordentlich großen Anzahl kleiner Capitalisten, die von einem Kriege eine Entwerthung der Renten zu fürchten haben, sehr bedenklich ist. Indessen sind dies lauter Palliativ¬ mittel, die den revolutionären Geist so wenig versöhnen werden, wie das schärfste Regiment ihn zu bändigen vermag. Ihn zu bannen giebt es nur ein Radical- mittel, Emancipation der Localverwaltung von der Staatsgewalt und Bildung des Volkes zur Freiheit von unten aus. Nur aus diese Weise kann es gelingen, die verderbliche Vorstellung auszurotten, daß das Wesen der Freiheit in einem stetigen Kampfe gegen oder um die Staatsgewalt bestehe, eine Borstellung, die ihre natürliche Ergänzung darin findet, daß die Staatsgewalt ihre Aufgabe als einen Kampf gegen die Freiheit, oder wie sie es ausdrückt, gegen die Anarchie auffaßt. Wenn der Despotismus glaubt, die Franzosen wie ein verkommenes und versumpftes Geschlecht behandeln und durch Gewährung materieller Vor¬ theile, sowie durch ein geistiges Nivellirungssystem gängeln zu können, so be¬ findet er sich in einem verhängnißvollen Irrthume. Das Feuer glimmt unter der Asche, aber es ist vulkanisch, revolutionär. ES ist kaum zu zweifeln, daß der Kaiser die Einsicht in diese Lage der Dinge besitzt. Sollte es ihm an der Macht fehlen, in geduldiger zäher Arbeit, wie sie seinem Charakter entspricht, sein Volk zu einem ruhigen und festen Besitze des höchsten politischen und sitt¬ lichen Gutes fähig zu machen? So lange die tüchtigsten Kräfte, die mehr zu sein beanspruchen als geschickte Organe seines Willens (an geschickten Organen fehlt es in dem classischen Lande der administrativen Routine natürlich keinem Herrscher) sich von ihm fern halten, und fern halten müssen, kann man aller-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/272>, abgerufen am 28.07.2024.