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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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anachronistisch wie Thiers Vorliebe für den Schutzzoll. Sie war für Frankreich
sehr bequem, so lange die Impulse in der hohen Politik ausschließlich von
den Cabineten ausgingen; dem einmal erwachten Nationalitätsprincip gegenüber
konnte sie nur durch einen Kampf gegen eben dies Princip aufrecht erhalten
werden. Diesen Kampf konnte aber Napoleon nicht unternehmen, da es für
ihn unmöglich war, gegen das Princip, auf das er selbst seine Macht begründet
hatte, zu kämpfen. Er ließ also die Entwickelung desselben zu, weil er mußte,
grade wie Thiers es gethan haben würde, wenn er statt Napoleons die Geschicke
Frankreichs zu leiten gehabt halte, nur mit dem großen Unterschiede, daß Na¬
poleon stark genug ist, bis zu einem gewissen Punkte die Leitung einer popu¬
lären Bewegung zu übernehmen, während Thiers, wie seine Antecedentien be¬
weisen, durchaus unfähig ist, in einer Zeit der Aufregung die Zügel in der
Hand zu behalten.

So ist denn Thiers Stellung zum Kaiser sehr eigenthümlich. Er hat viel
zu viel Sympathien für das erste Kaiserthum, um ein principieller Gegner des
zweiten zu sein. Gegen die Unterdrückung der communalen und localen Selb¬
ständigkeit hat er gar nichts einzuwenden; ja er geht in seinen Begriffen von
der Omnipotenz der Staatsgewalt, vorausgesetzt, daß der Herrscher sie mit einer
gewählten Versammlung theilt und durch dieser verantwortliche Minister aus¬
üben läßt, vielleicht noch weiter als der Kaiser selbst, der die Gefahren dieser
Allmacht ohne Zweifel richtiger erkennt, als der neue Ministercandidat. Es ist
daher wohl kaum zweifelhaft, daß, wenn Napoleon ihn um seinen Rath fragen
sollte, er denselben sehr gern ertheilen würde. Was sie trennt, ist aber die
Vorliebe Thiers' für parlamentarische Formen und die Selbständigkeit des Cha¬
rakters, die derselbe bei aller Beweglichkeit unzweifelhaft besitzt. Bei seiner
ausgesprochenen Neigung für die hohe Politik würde er aber nicht umhin können
diese Selbständigkeit grade auf einem Felde zur Anwendung zu bringen, wo
der Kaiser nur geschickte Werkzeuge sucht, selbständige Berather aber nicht duldet.
Aber auch in der innern Frage würden die schwersten Differenzen unausbleiblich
sein. Einer Annäherung der beiden Männer würde daher ein Bruch auf dem
Fuße folgen. So wünschenswert!.) es für den Kaiser auch sein mag, den sehr
gefährlichen Gegner zu gewinnen, so ist doch andrerseits gewiß, daß ein ver¬
geblicher Versuch ihn dauernd an sich zu fesseln, die Kräfte des Gegners ver¬
doppeln würde. Die Macht des Kaisers beruht zum großen Theil darauf, daß
es in Frankreich keinen parlamentarischen Ministercandidaten giebt. Soll Na¬
poleon sich herbeilassen, den klügsten, erfahrungsreichsten und, wo es auf die
Leitung parlamentarischer Versammlungen ankommt, noch immer einflußreichsten


heitsbcstrcbungen, sobald sie praktisch zu werden drohen, d.h. sobald sie auf eine Unificirung
durch Preußen hinauslaufen, feindlich gesinnt sind, wie die neuesten Erpcctorationen Louis
Blancs gegen die "Aufsaugung Deutschlands durch Preußen" beweisen.
Grenzboten II. 186K. 32

anachronistisch wie Thiers Vorliebe für den Schutzzoll. Sie war für Frankreich
sehr bequem, so lange die Impulse in der hohen Politik ausschließlich von
den Cabineten ausgingen; dem einmal erwachten Nationalitätsprincip gegenüber
konnte sie nur durch einen Kampf gegen eben dies Princip aufrecht erhalten
werden. Diesen Kampf konnte aber Napoleon nicht unternehmen, da es für
ihn unmöglich war, gegen das Princip, auf das er selbst seine Macht begründet
hatte, zu kämpfen. Er ließ also die Entwickelung desselben zu, weil er mußte,
grade wie Thiers es gethan haben würde, wenn er statt Napoleons die Geschicke
Frankreichs zu leiten gehabt halte, nur mit dem großen Unterschiede, daß Na¬
poleon stark genug ist, bis zu einem gewissen Punkte die Leitung einer popu¬
lären Bewegung zu übernehmen, während Thiers, wie seine Antecedentien be¬
weisen, durchaus unfähig ist, in einer Zeit der Aufregung die Zügel in der
Hand zu behalten.

So ist denn Thiers Stellung zum Kaiser sehr eigenthümlich. Er hat viel
zu viel Sympathien für das erste Kaiserthum, um ein principieller Gegner des
zweiten zu sein. Gegen die Unterdrückung der communalen und localen Selb¬
ständigkeit hat er gar nichts einzuwenden; ja er geht in seinen Begriffen von
der Omnipotenz der Staatsgewalt, vorausgesetzt, daß der Herrscher sie mit einer
gewählten Versammlung theilt und durch dieser verantwortliche Minister aus¬
üben läßt, vielleicht noch weiter als der Kaiser selbst, der die Gefahren dieser
Allmacht ohne Zweifel richtiger erkennt, als der neue Ministercandidat. Es ist
daher wohl kaum zweifelhaft, daß, wenn Napoleon ihn um seinen Rath fragen
sollte, er denselben sehr gern ertheilen würde. Was sie trennt, ist aber die
Vorliebe Thiers' für parlamentarische Formen und die Selbständigkeit des Cha¬
rakters, die derselbe bei aller Beweglichkeit unzweifelhaft besitzt. Bei seiner
ausgesprochenen Neigung für die hohe Politik würde er aber nicht umhin können
diese Selbständigkeit grade auf einem Felde zur Anwendung zu bringen, wo
der Kaiser nur geschickte Werkzeuge sucht, selbständige Berather aber nicht duldet.
Aber auch in der innern Frage würden die schwersten Differenzen unausbleiblich
sein. Einer Annäherung der beiden Männer würde daher ein Bruch auf dem
Fuße folgen. So wünschenswert!.) es für den Kaiser auch sein mag, den sehr
gefährlichen Gegner zu gewinnen, so ist doch andrerseits gewiß, daß ein ver¬
geblicher Versuch ihn dauernd an sich zu fesseln, die Kräfte des Gegners ver¬
doppeln würde. Die Macht des Kaisers beruht zum großen Theil darauf, daß
es in Frankreich keinen parlamentarischen Ministercandidaten giebt. Soll Na¬
poleon sich herbeilassen, den klügsten, erfahrungsreichsten und, wo es auf die
Leitung parlamentarischer Versammlungen ankommt, noch immer einflußreichsten


heitsbcstrcbungen, sobald sie praktisch zu werden drohen, d.h. sobald sie auf eine Unificirung
durch Preußen hinauslaufen, feindlich gesinnt sind, wie die neuesten Erpcctorationen Louis
Blancs gegen die „Aufsaugung Deutschlands durch Preußen" beweisen.
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[0271] anachronistisch wie Thiers Vorliebe für den Schutzzoll. Sie war für Frankreich sehr bequem, so lange die Impulse in der hohen Politik ausschließlich von den Cabineten ausgingen; dem einmal erwachten Nationalitätsprincip gegenüber konnte sie nur durch einen Kampf gegen eben dies Princip aufrecht erhalten werden. Diesen Kampf konnte aber Napoleon nicht unternehmen, da es für ihn unmöglich war, gegen das Princip, auf das er selbst seine Macht begründet hatte, zu kämpfen. Er ließ also die Entwickelung desselben zu, weil er mußte, grade wie Thiers es gethan haben würde, wenn er statt Napoleons die Geschicke Frankreichs zu leiten gehabt halte, nur mit dem großen Unterschiede, daß Na¬ poleon stark genug ist, bis zu einem gewissen Punkte die Leitung einer popu¬ lären Bewegung zu übernehmen, während Thiers, wie seine Antecedentien be¬ weisen, durchaus unfähig ist, in einer Zeit der Aufregung die Zügel in der Hand zu behalten. So ist denn Thiers Stellung zum Kaiser sehr eigenthümlich. Er hat viel zu viel Sympathien für das erste Kaiserthum, um ein principieller Gegner des zweiten zu sein. Gegen die Unterdrückung der communalen und localen Selb¬ ständigkeit hat er gar nichts einzuwenden; ja er geht in seinen Begriffen von der Omnipotenz der Staatsgewalt, vorausgesetzt, daß der Herrscher sie mit einer gewählten Versammlung theilt und durch dieser verantwortliche Minister aus¬ üben läßt, vielleicht noch weiter als der Kaiser selbst, der die Gefahren dieser Allmacht ohne Zweifel richtiger erkennt, als der neue Ministercandidat. Es ist daher wohl kaum zweifelhaft, daß, wenn Napoleon ihn um seinen Rath fragen sollte, er denselben sehr gern ertheilen würde. Was sie trennt, ist aber die Vorliebe Thiers' für parlamentarische Formen und die Selbständigkeit des Cha¬ rakters, die derselbe bei aller Beweglichkeit unzweifelhaft besitzt. Bei seiner ausgesprochenen Neigung für die hohe Politik würde er aber nicht umhin können diese Selbständigkeit grade auf einem Felde zur Anwendung zu bringen, wo der Kaiser nur geschickte Werkzeuge sucht, selbständige Berather aber nicht duldet. Aber auch in der innern Frage würden die schwersten Differenzen unausbleiblich sein. Einer Annäherung der beiden Männer würde daher ein Bruch auf dem Fuße folgen. So wünschenswert!.) es für den Kaiser auch sein mag, den sehr gefährlichen Gegner zu gewinnen, so ist doch andrerseits gewiß, daß ein ver¬ geblicher Versuch ihn dauernd an sich zu fesseln, die Kräfte des Gegners ver¬ doppeln würde. Die Macht des Kaisers beruht zum großen Theil darauf, daß es in Frankreich keinen parlamentarischen Ministercandidaten giebt. Soll Na¬ poleon sich herbeilassen, den klügsten, erfahrungsreichsten und, wo es auf die Leitung parlamentarischer Versammlungen ankommt, noch immer einflußreichsten heitsbcstrcbungen, sobald sie praktisch zu werden drohen, d.h. sobald sie auf eine Unificirung durch Preußen hinauslaufen, feindlich gesinnt sind, wie die neuesten Erpcctorationen Louis Blancs gegen die „Aufsaugung Deutschlands durch Preußen" beweisen. Grenzboten II. 186K. 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/271>, abgerufen am 28.07.2024.