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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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Partie zu einander liegt die Gefahr der Situation. Die Mißstimmung in der
Schaar der Getreuen ist deswegen bedenklich, weil die Unzufriedenen in der ent¬
scheidenden Opposition einen moralischen Halt finden; die Opposition aber ist
bei ihrer numerischen Schwäche erst von dem Augenblicke an zu fürchten, wo
sie diesen Halt gewährt und die Mißstimmung in das kaiserliche Lager trägt,
um selbst die Führung aller mißvergnügten Elemente zu überwachen. Das
Urtheil darüber, was der Kaiser und Frankreich von dem Wiedererwachen des
Freiheitssinnes zu fürchten oder zu hoffen haben, wird also ganz von dem
Charakter der entschiedenen Opposition bestimmt werden.

Die Opposition besteht außer einigen Legitimisten aus Republikanern und
alten Orleanisten, die zwar das Kaiserreich als Thatsache anerkannt und sich
ihm verpflichtet haben, deren Treue und Hingebung aber schwerlich die Probe
einer ernsten Krisis bestehen würde. An einer Stabilirung der Dynastie ist den
Meisten unter ihnen wohl wenig gelegen. Sie haben nur die Absicht, ihre
Politischen Ansichten und ihre Personen auch unter der gegenwärtigen Dynastie
zur Geltung zu bringen. Kann die Dynastie die Freiheit nicht ertragen, so
würden sie im Falle des Conflictes gewiß ohne Bedenken sich für die Freiheit,
und gegen die Dynastie entscheiden. Ein Verhältniß gegenseitigen Vertrauens
zwischen ihnen und dem Kaiser wird sich daher nur unter ganz besondern Um¬
ständen herstellen lassen. Das Losungswort dieser Coalition ist für jetzt: Wie¬
derherstellung des parlamentarischen Regimes; in diesem Streben stimmen, im
scharfen Gegensatze gegen den Imperialismus, Republikaner, Orleanisten, Legi¬
timisten überein.

Von diesen drei Gruppen scheint die der Legitimisten unfähig zu sein, eine
selbständige Rolle zu spielen. Ein Legitimist kann in Frankreich nur in dem
Falle auf Sympathien rechnen, wenn er die Principien verläugnet, kraft deren
seine Partei überhaupt besteht. Frankreich, auch das politisch geknechtete, ist in
Beziehung auf die Standesverhältnisse doch durchweg liberal. Der Adel, der
Hauptträger der legitimistischen Gesinnung, ist als Stand verhaßt und zugleich
ohnmächtig; die Abneigung, an der im Beginn der Julidynastie die erbliche
Pairie zu Grunde gegangen ist, besteht ungeschwächt fort. Denn der Legitimis¬
mus ist den Franzosen die wahrhafte Jncarnation des Feudalismus. Dem
Liberalismus des legitimistischen Adels in seiner Gesammtheit traut niemand,
da Legitimismus und Aristokratie in der französischen Vorstellung zwei identische
Begriffe sind. Der andere Träger des Legitimismus ist die Geistlichkeit, deren
Einfluß allerdings in Frankreich auf dem Lande sehr bedeutend ist. Aber, wie
Tocqueville in einigen seiner Briefe so vorzüglich nachgewiesen hat, der Einfluß
des Klerus hört auf, so bald er offen als Vertreter der politischen Reaction
auftritt. Man verzeiht ihm vielleicht im Stillen gehegte legitimistische Wünsche, -
eine legitimistische Politik würde ihn sofort seiner Autorität berauben.


Partie zu einander liegt die Gefahr der Situation. Die Mißstimmung in der
Schaar der Getreuen ist deswegen bedenklich, weil die Unzufriedenen in der ent¬
scheidenden Opposition einen moralischen Halt finden; die Opposition aber ist
bei ihrer numerischen Schwäche erst von dem Augenblicke an zu fürchten, wo
sie diesen Halt gewährt und die Mißstimmung in das kaiserliche Lager trägt,
um selbst die Führung aller mißvergnügten Elemente zu überwachen. Das
Urtheil darüber, was der Kaiser und Frankreich von dem Wiedererwachen des
Freiheitssinnes zu fürchten oder zu hoffen haben, wird also ganz von dem
Charakter der entschiedenen Opposition bestimmt werden.

Die Opposition besteht außer einigen Legitimisten aus Republikanern und
alten Orleanisten, die zwar das Kaiserreich als Thatsache anerkannt und sich
ihm verpflichtet haben, deren Treue und Hingebung aber schwerlich die Probe
einer ernsten Krisis bestehen würde. An einer Stabilirung der Dynastie ist den
Meisten unter ihnen wohl wenig gelegen. Sie haben nur die Absicht, ihre
Politischen Ansichten und ihre Personen auch unter der gegenwärtigen Dynastie
zur Geltung zu bringen. Kann die Dynastie die Freiheit nicht ertragen, so
würden sie im Falle des Conflictes gewiß ohne Bedenken sich für die Freiheit,
und gegen die Dynastie entscheiden. Ein Verhältniß gegenseitigen Vertrauens
zwischen ihnen und dem Kaiser wird sich daher nur unter ganz besondern Um¬
ständen herstellen lassen. Das Losungswort dieser Coalition ist für jetzt: Wie¬
derherstellung des parlamentarischen Regimes; in diesem Streben stimmen, im
scharfen Gegensatze gegen den Imperialismus, Republikaner, Orleanisten, Legi¬
timisten überein.

Von diesen drei Gruppen scheint die der Legitimisten unfähig zu sein, eine
selbständige Rolle zu spielen. Ein Legitimist kann in Frankreich nur in dem
Falle auf Sympathien rechnen, wenn er die Principien verläugnet, kraft deren
seine Partei überhaupt besteht. Frankreich, auch das politisch geknechtete, ist in
Beziehung auf die Standesverhältnisse doch durchweg liberal. Der Adel, der
Hauptträger der legitimistischen Gesinnung, ist als Stand verhaßt und zugleich
ohnmächtig; die Abneigung, an der im Beginn der Julidynastie die erbliche
Pairie zu Grunde gegangen ist, besteht ungeschwächt fort. Denn der Legitimis¬
mus ist den Franzosen die wahrhafte Jncarnation des Feudalismus. Dem
Liberalismus des legitimistischen Adels in seiner Gesammtheit traut niemand,
da Legitimismus und Aristokratie in der französischen Vorstellung zwei identische
Begriffe sind. Der andere Träger des Legitimismus ist die Geistlichkeit, deren
Einfluß allerdings in Frankreich auf dem Lande sehr bedeutend ist. Aber, wie
Tocqueville in einigen seiner Briefe so vorzüglich nachgewiesen hat, der Einfluß
des Klerus hört auf, so bald er offen als Vertreter der politischen Reaction
auftritt. Man verzeiht ihm vielleicht im Stillen gehegte legitimistische Wünsche, -
eine legitimistische Politik würde ihn sofort seiner Autorität berauben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/267>, abgerufen am 28.07.2024.