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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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schneller bereit, sich von dem Druck einer ihm unbequem und verhaßt gewordenen
Herrschaft zu befreien. Somit ist denn die Opposition, die sich in dem gesetz¬
gebenden Körper gebildet hat, wohl geeignet, den Kaiser mit Sorge zu erfüllen.
Daß die numerische Stärke derselben noch sehr gering ist, vermag diese Besorg¬
nisse nicht zu zerstreuen. Die Kraft der Opposition besteht in der Wirkung, die
sie auf das Land ausübt. Die Gefahr liegt darin, daß die oppositionelle
Stimmung der kleinen liberalen Minorität sich der Meinung des Landes zu
bemächtigen anfängt. Daß die Opposition das Mißvergnügen auch in die
Reihen der Befriedigten getragen hat, daß aus den strengen Imperialisten eine
Fraction selbständiger sich ausgesondert hat, die es wagen eine Meinung zu
haben, worin anders hat das seinen Grund, als daß eine dem Kaiser ungünstige
öffentliche Meinung in der Bevölkerung sich bildet, deren Eindruck auch die
specifischen Anhänger des Kaisers sich nicht mehr zu entziehen vermögen? Die
Regierung hat daher alle Ursache, auf die Fahnenflüchtigen erbittert zu sein;
nur sollte sich ihre Mißstimmung mehr gegen das Uebel als gegen das Symp¬
tom des Uebels richten; aber gegen einen Zustand kann man seinen Groll nicht
auslassen, man richtet ihn also gegen die Personen, die unvorsichtig, vielleicht
aber auch klug genug sind, durch ihre Haltung- das Vorhandensein des unwill¬
kommenen Zustandes zu consiatiren. So lange die Opposition sich nur auf die
kleine Schaar der dem herrschenden System principiell feindlichen Männer be¬
schränkte, mochte man sich mit der Erwägung trösten, daß die geringe Anzahl
der Opponenten, so laut und kräftig sich ihre Stimmen erhoben, doch grade
die Schwäche der feindlichen Elemente recht augenscheinlich ins Licht stelle, auch
über die Bedeutung der unbequemen Thatsache, daß das wichtige Paris ein so
bedeutendes Contingent zur liberalen Phalanx gestellt hatte, konnte man sich
hinwegsetzen in einer Zeit, wo materielle Unruhen nicht zu befürchten waren;
daß aber auch entschiedene Anhänger des Kaiserthums eine Aenderung des Systems
im liberalen Sinne wünschen, daß sie diesem Wunsch zu Liebe sich von der
Strenge der Parteidisciplin, die keine Abweichung von dem Dogma der aus¬
schließlichen Negierungsinitiative duldet, hinwegsetzen, das ist ein unwiderleglicher
Beweis für die beginnende "Anarchie der öffentlichen Meinung". Denn in
Frankreich ist jede regierende Partei stets bereit gewesen, Abweichungen von
ihrer Auffassung als moralische Anarchie zu verdammen, wie viel mehr das
Kaiserthum, das stets darauf gefaßt sein muß; die Opposition gegen die Negie¬
rung in einen Angriff auf die Dynastie umschlagen zu sehen. Und gegen diese
Gefahr bietet die dynastische Gesinnung der neuen Mittelpartei dem Kaiser durch¬
aus keine Bürgschaft; es ist vielmehr unzweifelhaft, daß die Haltung der
Flüchtigen, wenn es nicht bald gelingt, sie wieder einzufangen, in einem kritischen
Momente ganz von derjenigen der alten Opposition abhängig sein wird.

Denn in den wechselseitigen Beziehungen der Opposition und des 1°lors-


schneller bereit, sich von dem Druck einer ihm unbequem und verhaßt gewordenen
Herrschaft zu befreien. Somit ist denn die Opposition, die sich in dem gesetz¬
gebenden Körper gebildet hat, wohl geeignet, den Kaiser mit Sorge zu erfüllen.
Daß die numerische Stärke derselben noch sehr gering ist, vermag diese Besorg¬
nisse nicht zu zerstreuen. Die Kraft der Opposition besteht in der Wirkung, die
sie auf das Land ausübt. Die Gefahr liegt darin, daß die oppositionelle
Stimmung der kleinen liberalen Minorität sich der Meinung des Landes zu
bemächtigen anfängt. Daß die Opposition das Mißvergnügen auch in die
Reihen der Befriedigten getragen hat, daß aus den strengen Imperialisten eine
Fraction selbständiger sich ausgesondert hat, die es wagen eine Meinung zu
haben, worin anders hat das seinen Grund, als daß eine dem Kaiser ungünstige
öffentliche Meinung in der Bevölkerung sich bildet, deren Eindruck auch die
specifischen Anhänger des Kaisers sich nicht mehr zu entziehen vermögen? Die
Regierung hat daher alle Ursache, auf die Fahnenflüchtigen erbittert zu sein;
nur sollte sich ihre Mißstimmung mehr gegen das Uebel als gegen das Symp¬
tom des Uebels richten; aber gegen einen Zustand kann man seinen Groll nicht
auslassen, man richtet ihn also gegen die Personen, die unvorsichtig, vielleicht
aber auch klug genug sind, durch ihre Haltung- das Vorhandensein des unwill¬
kommenen Zustandes zu consiatiren. So lange die Opposition sich nur auf die
kleine Schaar der dem herrschenden System principiell feindlichen Männer be¬
schränkte, mochte man sich mit der Erwägung trösten, daß die geringe Anzahl
der Opponenten, so laut und kräftig sich ihre Stimmen erhoben, doch grade
die Schwäche der feindlichen Elemente recht augenscheinlich ins Licht stelle, auch
über die Bedeutung der unbequemen Thatsache, daß das wichtige Paris ein so
bedeutendes Contingent zur liberalen Phalanx gestellt hatte, konnte man sich
hinwegsetzen in einer Zeit, wo materielle Unruhen nicht zu befürchten waren;
daß aber auch entschiedene Anhänger des Kaiserthums eine Aenderung des Systems
im liberalen Sinne wünschen, daß sie diesem Wunsch zu Liebe sich von der
Strenge der Parteidisciplin, die keine Abweichung von dem Dogma der aus¬
schließlichen Negierungsinitiative duldet, hinwegsetzen, das ist ein unwiderleglicher
Beweis für die beginnende „Anarchie der öffentlichen Meinung". Denn in
Frankreich ist jede regierende Partei stets bereit gewesen, Abweichungen von
ihrer Auffassung als moralische Anarchie zu verdammen, wie viel mehr das
Kaiserthum, das stets darauf gefaßt sein muß; die Opposition gegen die Negie¬
rung in einen Angriff auf die Dynastie umschlagen zu sehen. Und gegen diese
Gefahr bietet die dynastische Gesinnung der neuen Mittelpartei dem Kaiser durch¬
aus keine Bürgschaft; es ist vielmehr unzweifelhaft, daß die Haltung der
Flüchtigen, wenn es nicht bald gelingt, sie wieder einzufangen, in einem kritischen
Momente ganz von derjenigen der alten Opposition abhängig sein wird.

Denn in den wechselseitigen Beziehungen der Opposition und des 1°lors-


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[0266] schneller bereit, sich von dem Druck einer ihm unbequem und verhaßt gewordenen Herrschaft zu befreien. Somit ist denn die Opposition, die sich in dem gesetz¬ gebenden Körper gebildet hat, wohl geeignet, den Kaiser mit Sorge zu erfüllen. Daß die numerische Stärke derselben noch sehr gering ist, vermag diese Besorg¬ nisse nicht zu zerstreuen. Die Kraft der Opposition besteht in der Wirkung, die sie auf das Land ausübt. Die Gefahr liegt darin, daß die oppositionelle Stimmung der kleinen liberalen Minorität sich der Meinung des Landes zu bemächtigen anfängt. Daß die Opposition das Mißvergnügen auch in die Reihen der Befriedigten getragen hat, daß aus den strengen Imperialisten eine Fraction selbständiger sich ausgesondert hat, die es wagen eine Meinung zu haben, worin anders hat das seinen Grund, als daß eine dem Kaiser ungünstige öffentliche Meinung in der Bevölkerung sich bildet, deren Eindruck auch die specifischen Anhänger des Kaisers sich nicht mehr zu entziehen vermögen? Die Regierung hat daher alle Ursache, auf die Fahnenflüchtigen erbittert zu sein; nur sollte sich ihre Mißstimmung mehr gegen das Uebel als gegen das Symp¬ tom des Uebels richten; aber gegen einen Zustand kann man seinen Groll nicht auslassen, man richtet ihn also gegen die Personen, die unvorsichtig, vielleicht aber auch klug genug sind, durch ihre Haltung- das Vorhandensein des unwill¬ kommenen Zustandes zu consiatiren. So lange die Opposition sich nur auf die kleine Schaar der dem herrschenden System principiell feindlichen Männer be¬ schränkte, mochte man sich mit der Erwägung trösten, daß die geringe Anzahl der Opponenten, so laut und kräftig sich ihre Stimmen erhoben, doch grade die Schwäche der feindlichen Elemente recht augenscheinlich ins Licht stelle, auch über die Bedeutung der unbequemen Thatsache, daß das wichtige Paris ein so bedeutendes Contingent zur liberalen Phalanx gestellt hatte, konnte man sich hinwegsetzen in einer Zeit, wo materielle Unruhen nicht zu befürchten waren; daß aber auch entschiedene Anhänger des Kaiserthums eine Aenderung des Systems im liberalen Sinne wünschen, daß sie diesem Wunsch zu Liebe sich von der Strenge der Parteidisciplin, die keine Abweichung von dem Dogma der aus¬ schließlichen Negierungsinitiative duldet, hinwegsetzen, das ist ein unwiderleglicher Beweis für die beginnende „Anarchie der öffentlichen Meinung". Denn in Frankreich ist jede regierende Partei stets bereit gewesen, Abweichungen von ihrer Auffassung als moralische Anarchie zu verdammen, wie viel mehr das Kaiserthum, das stets darauf gefaßt sein muß; die Opposition gegen die Negie¬ rung in einen Angriff auf die Dynastie umschlagen zu sehen. Und gegen diese Gefahr bietet die dynastische Gesinnung der neuen Mittelpartei dem Kaiser durch¬ aus keine Bürgschaft; es ist vielmehr unzweifelhaft, daß die Haltung der Flüchtigen, wenn es nicht bald gelingt, sie wieder einzufangen, in einem kritischen Momente ganz von derjenigen der alten Opposition abhängig sein wird. Denn in den wechselseitigen Beziehungen der Opposition und des 1°lors-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/266>, abgerufen am 28.07.2024.