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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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ganger hatte; die Natur umfängt den Griechen mit der Rechten, den Römer
mit der Linken. Beide bleiben ewige Vorbilder, und nur Eins ist zu bedauern
-- daß sie keine Christen waren!

Von da an ist eine Kluft von Jahrhunderten; erst Tasso ist wieder nennens¬
wert!), der einen glücklich gewählten heiligen Stoff mit reichem und feurigem
Geiste ausgeschmückt hat. Aber er hat mehr Phantasie als Geschmack, hält
sich nicht immer auf gleicher Höhe und preßt dem Nachfolger, bei aller Be¬
wunderung, doch niemals die Thränen der edlen Nacheiferung aus. Nach einem
Blick auf die Entartung der neueren italienischen Poesie wendet sich der Redner
sofort England zu, dieser "Königin unter den Nationen Europas", wo nun mit
ähnlicher Auszeichnung, wie oben Homer, Milton eingeführt wird. An Geist
und Dichterkraft sein Nebenbuhler, steht er durch die Würde der geoffenbarten
Religion, die er verherrlicht, über dem Griechen, während er den Fußtapfen
der heiligen Schriftsteller von Ferne und mit Ehrfurcht nachgeht. Wie erhaben
ist sein Gegenstand: Gott, Himmel und Hölle, das Chaos, die Reihe der
daraus hervorgegangenen Welten, die Bewohner der Gestirne, die Engel und
Menschen vor und nach dem Fall, mit dem Ausblick auf die Erlösung. Einen
noch erhabenem Stoff hat der jugendliche Redner sich selbst zur dichterischen
Bearbeitung ausersehen; eine Kühnheit, um deren willen er Miltons erhabenen
Schatten ihm nicht zürnen zu wollen bittet.

Bedeutend abwärts geht es von da zu den Franzosen, deren Geist fein
und leicht, aber selten erhaben ist. Manche hat ein edler Ehrgeiz in die epische
Bahn gerissen; aber wenige sind darin glücklich gewesen. Einsam steht Fene-
lon da, der in seinem Telemach den Virgil an einfacher Anmuth erreicht, an
sittlichem Geiste übertrifft. Daß Voltaire dieses Werk nicht als Epos, sondern
nur als Roman gelten lassen will, ist Neid; denn er mit seiner Henriade steht
tief darunter. Zierlich, aber nicht groß, natürlich, aber oft auch gewöhnlich,
läßt er einen am Ende kalt; abgesehen noch davon, daß er auch mehr Schmeich-
ler ist. als sich mit der Würde der Dichtkunst verträgt. In neuester Zeit ist
unter den Engländern Glover mit seinem Leonidas, in den Niederlanden van
Haaren mit seinem Friso aufgetreten, der dem Telemach nahe kommt.

So dringt der Ruhm epischer Dichtung immer mehr gegen unsere Grenzen
vor: aber herüber kommt er nicht. Eher wird er noch die kalten Nordländer
besuchen, als er die unsrigen erblickt. Jedes Volk in Europa wird mit dem
Namen eines Helden-Dichters prangen; nur wir Deutsche, trug und ohne Ehr¬
gefühl, werden eines solchen auch dann noch entbehren. "Gerechter Unwillen
ergreift meine Seele, wenn ich die tiefe Schlafsucht unseres Volkes in diesem
Stücke wahrnehmen muß. Durch Beschäftigung mit elenden Tändeleien suchen
wir den Ruhm des Genies; durch Gedichte, die zu keinem andern Zwecke zu
entstehen scheinen, als um unterzugehen und nicht mehr zu sein, wagen wir,


ganger hatte; die Natur umfängt den Griechen mit der Rechten, den Römer
mit der Linken. Beide bleiben ewige Vorbilder, und nur Eins ist zu bedauern
— daß sie keine Christen waren!

Von da an ist eine Kluft von Jahrhunderten; erst Tasso ist wieder nennens¬
wert!), der einen glücklich gewählten heiligen Stoff mit reichem und feurigem
Geiste ausgeschmückt hat. Aber er hat mehr Phantasie als Geschmack, hält
sich nicht immer auf gleicher Höhe und preßt dem Nachfolger, bei aller Be¬
wunderung, doch niemals die Thränen der edlen Nacheiferung aus. Nach einem
Blick auf die Entartung der neueren italienischen Poesie wendet sich der Redner
sofort England zu, dieser „Königin unter den Nationen Europas", wo nun mit
ähnlicher Auszeichnung, wie oben Homer, Milton eingeführt wird. An Geist
und Dichterkraft sein Nebenbuhler, steht er durch die Würde der geoffenbarten
Religion, die er verherrlicht, über dem Griechen, während er den Fußtapfen
der heiligen Schriftsteller von Ferne und mit Ehrfurcht nachgeht. Wie erhaben
ist sein Gegenstand: Gott, Himmel und Hölle, das Chaos, die Reihe der
daraus hervorgegangenen Welten, die Bewohner der Gestirne, die Engel und
Menschen vor und nach dem Fall, mit dem Ausblick auf die Erlösung. Einen
noch erhabenem Stoff hat der jugendliche Redner sich selbst zur dichterischen
Bearbeitung ausersehen; eine Kühnheit, um deren willen er Miltons erhabenen
Schatten ihm nicht zürnen zu wollen bittet.

Bedeutend abwärts geht es von da zu den Franzosen, deren Geist fein
und leicht, aber selten erhaben ist. Manche hat ein edler Ehrgeiz in die epische
Bahn gerissen; aber wenige sind darin glücklich gewesen. Einsam steht Fene-
lon da, der in seinem Telemach den Virgil an einfacher Anmuth erreicht, an
sittlichem Geiste übertrifft. Daß Voltaire dieses Werk nicht als Epos, sondern
nur als Roman gelten lassen will, ist Neid; denn er mit seiner Henriade steht
tief darunter. Zierlich, aber nicht groß, natürlich, aber oft auch gewöhnlich,
läßt er einen am Ende kalt; abgesehen noch davon, daß er auch mehr Schmeich-
ler ist. als sich mit der Würde der Dichtkunst verträgt. In neuester Zeit ist
unter den Engländern Glover mit seinem Leonidas, in den Niederlanden van
Haaren mit seinem Friso aufgetreten, der dem Telemach nahe kommt.

So dringt der Ruhm epischer Dichtung immer mehr gegen unsere Grenzen
vor: aber herüber kommt er nicht. Eher wird er noch die kalten Nordländer
besuchen, als er die unsrigen erblickt. Jedes Volk in Europa wird mit dem
Namen eines Helden-Dichters prangen; nur wir Deutsche, trug und ohne Ehr¬
gefühl, werden eines solchen auch dann noch entbehren. „Gerechter Unwillen
ergreift meine Seele, wenn ich die tiefe Schlafsucht unseres Volkes in diesem
Stücke wahrnehmen muß. Durch Beschäftigung mit elenden Tändeleien suchen
wir den Ruhm des Genies; durch Gedichte, die zu keinem andern Zwecke zu
entstehen scheinen, als um unterzugehen und nicht mehr zu sein, wagen wir,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/250>, abgerufen am 28.07.2024.