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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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Schätze anschaulich zu gruppiren versteht. Pech überläßt allzu liberal der Phan"
laste jedes einzelnen Lesers, sich je nach dem Maße seines Verständnisses ein
Bild des Helden zu construiren. Auch wir benutzen die gegebene Freiheit
und verwenden außer den Materialien des angezeigten Buches die Züge,
welche andere Schriftsteller bereits gegeben haben. Von ihnen sei nur erwähnt
Genera! v. FranseSh als Verfasser des 1866 erschienenen Beiheftes zum Mili¬
tär-Wochenblatt, Professor Usinger. der im 14. Bande der historischen Zeitschrift
sich in einem längeren Aussatz mit Gneisenau beschäftigt, endlich General v. Müff-
ling in seinem hinterlassenen Buch "Aus meinem Leben", der auf Gneisenau
viele dunkle Schlaglichter fallen läßt, um ihn als guten Hintergrund für eigene
Größe zu benutzen.

Gneisenau wurde am 27. October 1760 in Schild" geboren, in dessen
Nähe sein Vater, damals sächsischer Artillerielieutenant, v. Neithardt genannt,
mit der Reichsarmee gegen Torgau und die Preußen im Lager stand. Die
Mutter war die Tochter eines fränkischen Artillerieoffiziers, der später in
Würzburg als Oberst starb. Die Reichsarmee verließ zu dieser Zeit die Ge¬
gend vonSchilda, um sich dem Angriff des herannahenden Königs von Preu¬
ßen zu entziehen. Die Mutter schloß sich auf einem Bauerwagen dem Rückzug
an und verlor schlafend das Kind vom Schooß, das auf den Weg siel. Ein
Soldat fand es im Geleise liegend und brachte es der bereits verzweifelnden
Mutter, die sich aber von dem gehabten Schreck nicht erholte und nach einiger
Zeit starb. Der Vater kehrte mit dem Kinde nach Schilda zurück und brachte
es bei fremden Leuten unter, als nächsten Ersatz für Kost und Pflege 17 schlechte
Groschen hinterlassend. Hier blieb der Knabe bis in das neunte Jahr und wuchs
in freier Natur kräftig und gesund aus. Er hat hier die Gänse gehütet, ist
barfuß in die Schule gegangen und hat aus Luthers Katechismus den ersten
Religionsunterricht genossen. Er brauchte nicht Hunger zu leiden, er hatte
stets ein Stück Brod in der Tasche, aber er erfuhr auch harte Behandlung;
deshalb nahm sich seiner ein Schneider an und setzte den Großvater von der
Lage des Enkels in Kenntniß. Eine prächtige Kutsche kam und holte den
Knaben in das behäbige großväterliche Haus, wo er nun eine goldne Zeit ver¬
lebte, die Freuden einer geistig angeregten Häuslichkeit genoß, sich mütterlicher
Erziehung von den Tanten erfreute, einen regelmäßigen Unterricht erhielt, in
die strenge Jesuitenschule ging und ganz katholisch erzogen wurde. Jedoch nur
wenige Jahre waren ihm die Freuden dieses Aufenthalts gegönnt; der Gro߬
vater starb, und Gneisenau mußte ungefähr 1773 wieder bei seinem Vater Ob¬
dach suchen, der unterdeß auf Abenteuer umhergeirrt war, sich mit einer Frau
niedren Standes verheirathet und endlich in Erfurt Beschäftigung als Bau¬
meister gefunden hatte. Die Stiefmutter sah den Sohn mit ungünstigen Augen
an, die Ehe des Vaters war überhaupt keine glückliche, der Frieden herrschte


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laste jedes einzelnen Lesers, sich je nach dem Maße seines Verständnisses ein
Bild des Helden zu construiren. Auch wir benutzen die gegebene Freiheit
und verwenden außer den Materialien des angezeigten Buches die Züge,
welche andere Schriftsteller bereits gegeben haben. Von ihnen sei nur erwähnt
Genera! v. FranseSh als Verfasser des 1866 erschienenen Beiheftes zum Mili¬
tär-Wochenblatt, Professor Usinger. der im 14. Bande der historischen Zeitschrift
sich in einem längeren Aussatz mit Gneisenau beschäftigt, endlich General v. Müff-
ling in seinem hinterlassenen Buch „Aus meinem Leben", der auf Gneisenau
viele dunkle Schlaglichter fallen läßt, um ihn als guten Hintergrund für eigene
Größe zu benutzen.

Gneisenau wurde am 27. October 1760 in Schild« geboren, in dessen
Nähe sein Vater, damals sächsischer Artillerielieutenant, v. Neithardt genannt,
mit der Reichsarmee gegen Torgau und die Preußen im Lager stand. Die
Mutter war die Tochter eines fränkischen Artillerieoffiziers, der später in
Würzburg als Oberst starb. Die Reichsarmee verließ zu dieser Zeit die Ge¬
gend vonSchilda, um sich dem Angriff des herannahenden Königs von Preu¬
ßen zu entziehen. Die Mutter schloß sich auf einem Bauerwagen dem Rückzug
an und verlor schlafend das Kind vom Schooß, das auf den Weg siel. Ein
Soldat fand es im Geleise liegend und brachte es der bereits verzweifelnden
Mutter, die sich aber von dem gehabten Schreck nicht erholte und nach einiger
Zeit starb. Der Vater kehrte mit dem Kinde nach Schilda zurück und brachte
es bei fremden Leuten unter, als nächsten Ersatz für Kost und Pflege 17 schlechte
Groschen hinterlassend. Hier blieb der Knabe bis in das neunte Jahr und wuchs
in freier Natur kräftig und gesund aus. Er hat hier die Gänse gehütet, ist
barfuß in die Schule gegangen und hat aus Luthers Katechismus den ersten
Religionsunterricht genossen. Er brauchte nicht Hunger zu leiden, er hatte
stets ein Stück Brod in der Tasche, aber er erfuhr auch harte Behandlung;
deshalb nahm sich seiner ein Schneider an und setzte den Großvater von der
Lage des Enkels in Kenntniß. Eine prächtige Kutsche kam und holte den
Knaben in das behäbige großväterliche Haus, wo er nun eine goldne Zeit ver¬
lebte, die Freuden einer geistig angeregten Häuslichkeit genoß, sich mütterlicher
Erziehung von den Tanten erfreute, einen regelmäßigen Unterricht erhielt, in
die strenge Jesuitenschule ging und ganz katholisch erzogen wurde. Jedoch nur
wenige Jahre waren ihm die Freuden dieses Aufenthalts gegönnt; der Gro߬
vater starb, und Gneisenau mußte ungefähr 1773 wieder bei seinem Vater Ob¬
dach suchen, der unterdeß auf Abenteuer umhergeirrt war, sich mit einer Frau
niedren Standes verheirathet und endlich in Erfurt Beschäftigung als Bau¬
meister gefunden hatte. Die Stiefmutter sah den Sohn mit ungünstigen Augen
an, die Ehe des Vaters war überhaupt keine glückliche, der Frieden herrschte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/156>, abgerufen am 01.09.2024.