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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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ohne etwas auf die Schönheit und Kraft des Ausdrucks zu geben. Wir haben
einige Lieder, die fast nur noch in Aeußerlichkeiten etwas mit der Poesie ge¬
mein haben, wie der lange Psalm 119, der in unendlichen Wiederholungen
einige wenige Gedanken bis zum Ueberdruß variirt. Geringen Werth hat auch
ein Theil der liturgischen Lobgesänge.

Die Reminiscenz ist in der spätern Poesie der Hebräer eine Haupttriebfeder.
Da man der eignen Kraft entbehrt oder ihr mißtraut, wiederholt man lieber
die alten beiligen Worte und verändert sie höchstens ein wenig. Schon in den
alten Zeiten sind Nachahmungen, die sich zum Theil ziemlich eng an die
Originale schließen, wie bei den Propheten, so auch bei den Dichtern nicht selten,
aber später werden sie immer häufiger. Manche Gedanken werden in mehren
Psalmen auf eine so ähnliche Weise ausgedrückt, daß wir hier nothwendig eine
Nachahmung statuiren müssen, so schwer es auch oft sein mag, zu sehen, wo
das Original ist, das ja für uns auch verloren sein kann. Zuweilen gehen
spätere Dichter so weit, ganze Verse, ja Versgruppen wörtlich abzuschreiben,
oder gradezu ihre Lieder aus Stücken älterer zusammenzusetzen. Das in der
Chronik als davidisch angeführte Lied der Art haben wir schon besprochen. So
ist serner Psalm 108 aus Psalm 57, 8-12 und 60, 7-14 zusammengesetzt.
Der mit großem Pomp auftretende Psalm 68 ist mit Ausnahme weniger Verse
ein ziemlich ungeschicktes Gemisch aus alterthümlichen Liedern und Sprüchen, die
wir theils noch haben, theils nur aus ihm kennen. Psalm 144 ist aus ver¬
schiedenen Theilen von Psalm 18, Psalm 8 und Unbekannten zusammengesetzt,
und so könnten wir noch mehr derartige Beispiele anführen. Es liegt auf der
Hand, daß noch andre Fälle vorhanden sein können, die uns aber entgehen.
Unter solchen Umständen wird man doppelt zur Vorsicht hinsichtlich der Zeit¬
bestimmung gemahnt, da wir uns leicht verführen lassen können, Stellen zur
Erkenntniß der Abfassungozeit zu benutzen, die von dem Dichter einem Vorgänger
einfach entlehnt sind. Ebenso liegen uns - deutlich einige Psalme in späteren
Umarbeitungen vor; besonders klar ist dies bei den zusammengehörigen Psalmen
9 und 10, die sicher ein alphabetisches Lied bildeten, welches aber, vielleicht
blos durch zufällige äußere Beschädigung betroffen, später stark verkürzt und
mit einigen Zusätzen und Abänderungen versehen ist. Hier beschränkt sich die
Thätigkeit des zweiten Dichters fast ganz auf die eines Diaskeuastcu.

Aber auch die weniger originellen Lieder haben doch immer ihren Werth.
Sie zeigen uns die religiöse Denkweise des ganzen Volks, wie sie sich an den
alten Vorbildern erhebt; in schlichten, wenig eigenthümlichen Worten spricht
sich doch oft auf ergreifende Weise ein reiner, frommer Sinn aus. Der Ver¬
gleich mit unsern Kirchenliedern, die doch größtentheils, wie die Kirchenlieder
aller christlichen Völker, nur schwache Nachbildungen der Psalme sind, liegt hier
sehr nahe.


ohne etwas auf die Schönheit und Kraft des Ausdrucks zu geben. Wir haben
einige Lieder, die fast nur noch in Aeußerlichkeiten etwas mit der Poesie ge¬
mein haben, wie der lange Psalm 119, der in unendlichen Wiederholungen
einige wenige Gedanken bis zum Ueberdruß variirt. Geringen Werth hat auch
ein Theil der liturgischen Lobgesänge.

Die Reminiscenz ist in der spätern Poesie der Hebräer eine Haupttriebfeder.
Da man der eignen Kraft entbehrt oder ihr mißtraut, wiederholt man lieber
die alten beiligen Worte und verändert sie höchstens ein wenig. Schon in den
alten Zeiten sind Nachahmungen, die sich zum Theil ziemlich eng an die
Originale schließen, wie bei den Propheten, so auch bei den Dichtern nicht selten,
aber später werden sie immer häufiger. Manche Gedanken werden in mehren
Psalmen auf eine so ähnliche Weise ausgedrückt, daß wir hier nothwendig eine
Nachahmung statuiren müssen, so schwer es auch oft sein mag, zu sehen, wo
das Original ist, das ja für uns auch verloren sein kann. Zuweilen gehen
spätere Dichter so weit, ganze Verse, ja Versgruppen wörtlich abzuschreiben,
oder gradezu ihre Lieder aus Stücken älterer zusammenzusetzen. Das in der
Chronik als davidisch angeführte Lied der Art haben wir schon besprochen. So
ist serner Psalm 108 aus Psalm 57, 8-12 und 60, 7-14 zusammengesetzt.
Der mit großem Pomp auftretende Psalm 68 ist mit Ausnahme weniger Verse
ein ziemlich ungeschicktes Gemisch aus alterthümlichen Liedern und Sprüchen, die
wir theils noch haben, theils nur aus ihm kennen. Psalm 144 ist aus ver¬
schiedenen Theilen von Psalm 18, Psalm 8 und Unbekannten zusammengesetzt,
und so könnten wir noch mehr derartige Beispiele anführen. Es liegt auf der
Hand, daß noch andre Fälle vorhanden sein können, die uns aber entgehen.
Unter solchen Umständen wird man doppelt zur Vorsicht hinsichtlich der Zeit¬
bestimmung gemahnt, da wir uns leicht verführen lassen können, Stellen zur
Erkenntniß der Abfassungozeit zu benutzen, die von dem Dichter einem Vorgänger
einfach entlehnt sind. Ebenso liegen uns - deutlich einige Psalme in späteren
Umarbeitungen vor; besonders klar ist dies bei den zusammengehörigen Psalmen
9 und 10, die sicher ein alphabetisches Lied bildeten, welches aber, vielleicht
blos durch zufällige äußere Beschädigung betroffen, später stark verkürzt und
mit einigen Zusätzen und Abänderungen versehen ist. Hier beschränkt sich die
Thätigkeit des zweiten Dichters fast ganz auf die eines Diaskeuastcu.

Aber auch die weniger originellen Lieder haben doch immer ihren Werth.
Sie zeigen uns die religiöse Denkweise des ganzen Volks, wie sie sich an den
alten Vorbildern erhebt; in schlichten, wenig eigenthümlichen Worten spricht
sich doch oft auf ergreifende Weise ein reiner, frommer Sinn aus. Der Ver¬
gleich mit unsern Kirchenliedern, die doch größtentheils, wie die Kirchenlieder
aller christlichen Völker, nur schwache Nachbildungen der Psalme sind, liegt hier
sehr nahe.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/152>, abgerufen am 28.07.2024.