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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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mit kurzen gewaltigen Zügen vor Augen, aber giebt überall der subjektiven
Beurtheilung der Ereignisse, auf die es sich bezieht, einen entschiedenen Aus¬
druck; feuriges Lob lufft die Tapfern, höhnischer Tadel die Säumigen, flam¬
mender Zorn die Widerstrebenden. Meisterhaft ist vor allem der bitter ironische
Schluß, welcher uns in den Kreis der Frauen führt, die auf die siegreiche Rück¬
kehr des getödteten Feldherrn warten. Rasch von Scene zu Scene übergehend,
hat das Lied doch seine feste Einheit. Sehr zu bemerken ist es, daß dieser
feierliche Gesang, der ohne Zweifel dazu bestimmt war, unter musikalischer Be¬
gleitung vorgetragen zu werden, trotz seines kriegerischen und echt volkstüm¬
lichen Geistes zugleich als religiöser Hymnus auftritt und den Gott Israels
mit kräftigen Worten preist. Welche Wichtigkeit dieser Umstand hat, leuchtet
ein, ebenso wie die große Bedeutung der in dem Liede vorkommenden Hinweise
auf die Verhältnisse der einzelnen israelitischen Stämme zu einander und zu
den Nachbarvölkern. Durch diese werden uns die in den durchgängig weit
spätern geschichtlichen Nachrichten vorliegenden Angaben theils bestätigt, theils
nicht unbedeutend modificirt. Die Echtheit des Liedes ist unbezweifelbar; mit
Recht hat man unter anderm darauf hingewiesen, daß die Schlußscene deutlich
ein Weib als Verfasserin verrathe. Sehr zu bedauern ist es, daß das Ver¬
ständniß des Liedes im Einzelnen so sehr schwierig ist; bei einem Liede, das
ums Jahr 1300 oder 1200 v. Chr. verfaßt ist, kann dies freilich nicht Wunder
nehmen, denn erstlich sind uns die Sprache und die Verhältnisse einer so alten
Zeit nicht hinreichend bekannt, und dann ist nicht zu bezweifeln, daß der
Text nicht unbedeutende Beschädigungen erlitten hat,, wenn er auch schon sehr
früh durch schriftliche Fixirung den schrankenlosen Entstellungen der münd¬
lichen Ueberlieferung entzogen sein mag. Es ist übrigens nicht unmöglich, daß
das Lied spätere Überarbeitung erfahren hat.

Dieser Literatur gehören auch wohl noch einzelne der volksthümlichen
Sprüche über die Stämme Israels an, welche der Verfasser von 1. Mose 49 (Segen
Jakobs) benutzt zu haben scheint; ferner erscheint einiges in Reflexen der ge¬
schichtlichen Bücher, wie z. B. in der aus einem poetischen Bilde zum historischen
Bericht erstarrten Erzählung vom Stillstehen der Sonne auf Josuas Befehl
(Jos. 10, 12-14). Einen ganz kurzen Siegcsreigen aus dem Schluß dieser
Epoche finden wir 1. Sam. 18, 6. Von einer eignen religiösen Lyrik tritt
uns in dieser ganzen Epoche noch nichts entgegen. Sie hat gewiß schon da¬
mals bestanden: da es einen Cultus mit Festen und Aufzügen gab, hat es
sicher auch Gesänge für denselben gegeben, aber diese mögen manches enthalten
haben, was dem religiösen Purismus späterer Zeiten anstößig erscheinen mußte,
und dann hat die religiöse Lyrik damals jedenfalls noch nicht-entfernt die her¬
vorragende Bedeutung gehabt, wie später.

Wie in der ganzen Geschichte Israels macht auch in der Poesie die Ein-


mit kurzen gewaltigen Zügen vor Augen, aber giebt überall der subjektiven
Beurtheilung der Ereignisse, auf die es sich bezieht, einen entschiedenen Aus¬
druck; feuriges Lob lufft die Tapfern, höhnischer Tadel die Säumigen, flam¬
mender Zorn die Widerstrebenden. Meisterhaft ist vor allem der bitter ironische
Schluß, welcher uns in den Kreis der Frauen führt, die auf die siegreiche Rück¬
kehr des getödteten Feldherrn warten. Rasch von Scene zu Scene übergehend,
hat das Lied doch seine feste Einheit. Sehr zu bemerken ist es, daß dieser
feierliche Gesang, der ohne Zweifel dazu bestimmt war, unter musikalischer Be¬
gleitung vorgetragen zu werden, trotz seines kriegerischen und echt volkstüm¬
lichen Geistes zugleich als religiöser Hymnus auftritt und den Gott Israels
mit kräftigen Worten preist. Welche Wichtigkeit dieser Umstand hat, leuchtet
ein, ebenso wie die große Bedeutung der in dem Liede vorkommenden Hinweise
auf die Verhältnisse der einzelnen israelitischen Stämme zu einander und zu
den Nachbarvölkern. Durch diese werden uns die in den durchgängig weit
spätern geschichtlichen Nachrichten vorliegenden Angaben theils bestätigt, theils
nicht unbedeutend modificirt. Die Echtheit des Liedes ist unbezweifelbar; mit
Recht hat man unter anderm darauf hingewiesen, daß die Schlußscene deutlich
ein Weib als Verfasserin verrathe. Sehr zu bedauern ist es, daß das Ver¬
ständniß des Liedes im Einzelnen so sehr schwierig ist; bei einem Liede, das
ums Jahr 1300 oder 1200 v. Chr. verfaßt ist, kann dies freilich nicht Wunder
nehmen, denn erstlich sind uns die Sprache und die Verhältnisse einer so alten
Zeit nicht hinreichend bekannt, und dann ist nicht zu bezweifeln, daß der
Text nicht unbedeutende Beschädigungen erlitten hat,, wenn er auch schon sehr
früh durch schriftliche Fixirung den schrankenlosen Entstellungen der münd¬
lichen Ueberlieferung entzogen sein mag. Es ist übrigens nicht unmöglich, daß
das Lied spätere Überarbeitung erfahren hat.

Dieser Literatur gehören auch wohl noch einzelne der volksthümlichen
Sprüche über die Stämme Israels an, welche der Verfasser von 1. Mose 49 (Segen
Jakobs) benutzt zu haben scheint; ferner erscheint einiges in Reflexen der ge¬
schichtlichen Bücher, wie z. B. in der aus einem poetischen Bilde zum historischen
Bericht erstarrten Erzählung vom Stillstehen der Sonne auf Josuas Befehl
(Jos. 10, 12-14). Einen ganz kurzen Siegcsreigen aus dem Schluß dieser
Epoche finden wir 1. Sam. 18, 6. Von einer eignen religiösen Lyrik tritt
uns in dieser ganzen Epoche noch nichts entgegen. Sie hat gewiß schon da¬
mals bestanden: da es einen Cultus mit Festen und Aufzügen gab, hat es
sicher auch Gesänge für denselben gegeben, aber diese mögen manches enthalten
haben, was dem religiösen Purismus späterer Zeiten anstößig erscheinen mußte,
und dann hat die religiöse Lyrik damals jedenfalls noch nicht-entfernt die her¬
vorragende Bedeutung gehabt, wie später.

Wie in der ganzen Geschichte Israels macht auch in der Poesie die Ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/140>, abgerufen am 28.07.2024.