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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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der westlichen Völkerkreise übten zwei christliche Kirchenväter aus: der heilige
Ambrosius und der heilige Augustinus. Jener führte, auf Clemens und
Origenes fußend, die allegorische Ansicht des Christenthums und den Spiri¬
tualismus im Abendlande ein: er ist der Urheber des Grundsatzes, den wir in
einer ganzen Reihe von Büchern, Gedichten und Kunstschöpfungen, zuletzt in
dem großen Werke Dantes, befolgt finden, daß in jedem Sinnlichen eine über¬
sinnliche Bedeutung gesucht werden müsse. Augustinus aber, dessen Schriften
direct und indirect länger als ein Jahrtausend eine Hauptquelle für die Re¬
ligionsphilosophen des Westens waren und auch auf die allgemeine Literatur
die tiefste und nachhaltigste Einwirkung übten, ist durch seine Abhandlung ok
vivitate vel der Vater des Welthasses der mittelalterlichen Phantasie und
jener Anschauung der Dinge geworden, welche, auf der Vorstellung beruhend,
daß die Menschheit aus zwei Theilen, einem fleischlich gesinnten und verdammten
und einem geistlich gesinnten und zur Seligkeit berufenen, bestehe, gleichsam zwei
Staaten nebeneinander auf Erden existiren sieht, einen zeitlichen, einst im Welten¬
brand unterzugehen bestimmten, dessen König der Teufel und dessen Geist die
Selbstliebe und der Haß des Göttlichen ist, und einen ewigen, dessen Regent
Gott und dessen Wesen Hingabe an das Göttliche und Verachtung unsrer
selbst ist.

Den Haupteinfluß, namentlich auch auf die Methode des mittelalterlichen
Studiums und Unterrichts hatten Cassiodorus und Boßthius, jener
einst Minister am Hofe der Ostgotdentonige in Ravenna, dann Mönch in Ca-
labrien, dieser Senator zu Rom in Theodorichs Zeit. Diese Männer sind bis
zu einem gewissen Grade als diejenigen anzusehen, welche die Grundsteine zum
Gebäude der Universität des Mittelalters, soweit sie Studienanstalt ist, legten
und in dieser Beziehung den Plan zu dem Ganzen entwarfen.

Die Klosterschule, welche Cassiodor als Ersatz für die damals allmälig ein¬
gehenden weltlichen Bildungsinstitute für Rhetorik, Philosophie und Rechts¬
wissenschaft gründete, wurde das Muster für alle späteren geistlichen Lehran¬
stalten und in der Hauptsache auch für die dann neben diesen aufblühenden
Hochschulen. Die Anweisung zum Studiren. die er für seine Mönche schrieb,
hat bis auf die neuere Zeit herab und in katholischen Ländern sowie in Eng¬
land bis lief in diese Zeit hinein im Allgemeinen als Norm gegolten. Von
ihm wurde jene bei Macrobius zuerst vorkommende Eintheilung des gelehrten
Wissens in sieben Künste und zwei Hauptclassen, das trivium und das quaÄri-
vium, welche das ganze Mittelalter hindurch Geltung behielt, diesem zuerst ver¬
mittelt, und von ihm stammt die Richtung, nach welcher Schulen und Universi¬
täten sich mit ihrem Unterricht vor allem an das Gedächtniß wendeten. Daß
er durch seine Chronik dazu beitrug, wenigstens das Gerippe der historischen
Wissenschaft zu sichern, die sonst zur bloßen Sagenerzählung und zum Ritter-


Grenzboten I. 18KK. 68

der westlichen Völkerkreise übten zwei christliche Kirchenväter aus: der heilige
Ambrosius und der heilige Augustinus. Jener führte, auf Clemens und
Origenes fußend, die allegorische Ansicht des Christenthums und den Spiri¬
tualismus im Abendlande ein: er ist der Urheber des Grundsatzes, den wir in
einer ganzen Reihe von Büchern, Gedichten und Kunstschöpfungen, zuletzt in
dem großen Werke Dantes, befolgt finden, daß in jedem Sinnlichen eine über¬
sinnliche Bedeutung gesucht werden müsse. Augustinus aber, dessen Schriften
direct und indirect länger als ein Jahrtausend eine Hauptquelle für die Re¬
ligionsphilosophen des Westens waren und auch auf die allgemeine Literatur
die tiefste und nachhaltigste Einwirkung übten, ist durch seine Abhandlung ok
vivitate vel der Vater des Welthasses der mittelalterlichen Phantasie und
jener Anschauung der Dinge geworden, welche, auf der Vorstellung beruhend,
daß die Menschheit aus zwei Theilen, einem fleischlich gesinnten und verdammten
und einem geistlich gesinnten und zur Seligkeit berufenen, bestehe, gleichsam zwei
Staaten nebeneinander auf Erden existiren sieht, einen zeitlichen, einst im Welten¬
brand unterzugehen bestimmten, dessen König der Teufel und dessen Geist die
Selbstliebe und der Haß des Göttlichen ist, und einen ewigen, dessen Regent
Gott und dessen Wesen Hingabe an das Göttliche und Verachtung unsrer
selbst ist.

Den Haupteinfluß, namentlich auch auf die Methode des mittelalterlichen
Studiums und Unterrichts hatten Cassiodorus und Boßthius, jener
einst Minister am Hofe der Ostgotdentonige in Ravenna, dann Mönch in Ca-
labrien, dieser Senator zu Rom in Theodorichs Zeit. Diese Männer sind bis
zu einem gewissen Grade als diejenigen anzusehen, welche die Grundsteine zum
Gebäude der Universität des Mittelalters, soweit sie Studienanstalt ist, legten
und in dieser Beziehung den Plan zu dem Ganzen entwarfen.

Die Klosterschule, welche Cassiodor als Ersatz für die damals allmälig ein¬
gehenden weltlichen Bildungsinstitute für Rhetorik, Philosophie und Rechts¬
wissenschaft gründete, wurde das Muster für alle späteren geistlichen Lehran¬
stalten und in der Hauptsache auch für die dann neben diesen aufblühenden
Hochschulen. Die Anweisung zum Studiren. die er für seine Mönche schrieb,
hat bis auf die neuere Zeit herab und in katholischen Ländern sowie in Eng¬
land bis lief in diese Zeit hinein im Allgemeinen als Norm gegolten. Von
ihm wurde jene bei Macrobius zuerst vorkommende Eintheilung des gelehrten
Wissens in sieben Künste und zwei Hauptclassen, das trivium und das quaÄri-
vium, welche das ganze Mittelalter hindurch Geltung behielt, diesem zuerst ver¬
mittelt, und von ihm stammt die Richtung, nach welcher Schulen und Universi¬
täten sich mit ihrem Unterricht vor allem an das Gedächtniß wendeten. Daß
er durch seine Chronik dazu beitrug, wenigstens das Gerippe der historischen
Wissenschaft zu sichern, die sonst zur bloßen Sagenerzählung und zum Ritter-


Grenzboten I. 18KK. 68
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[0485] der westlichen Völkerkreise übten zwei christliche Kirchenväter aus: der heilige Ambrosius und der heilige Augustinus. Jener führte, auf Clemens und Origenes fußend, die allegorische Ansicht des Christenthums und den Spiri¬ tualismus im Abendlande ein: er ist der Urheber des Grundsatzes, den wir in einer ganzen Reihe von Büchern, Gedichten und Kunstschöpfungen, zuletzt in dem großen Werke Dantes, befolgt finden, daß in jedem Sinnlichen eine über¬ sinnliche Bedeutung gesucht werden müsse. Augustinus aber, dessen Schriften direct und indirect länger als ein Jahrtausend eine Hauptquelle für die Re¬ ligionsphilosophen des Westens waren und auch auf die allgemeine Literatur die tiefste und nachhaltigste Einwirkung übten, ist durch seine Abhandlung ok vivitate vel der Vater des Welthasses der mittelalterlichen Phantasie und jener Anschauung der Dinge geworden, welche, auf der Vorstellung beruhend, daß die Menschheit aus zwei Theilen, einem fleischlich gesinnten und verdammten und einem geistlich gesinnten und zur Seligkeit berufenen, bestehe, gleichsam zwei Staaten nebeneinander auf Erden existiren sieht, einen zeitlichen, einst im Welten¬ brand unterzugehen bestimmten, dessen König der Teufel und dessen Geist die Selbstliebe und der Haß des Göttlichen ist, und einen ewigen, dessen Regent Gott und dessen Wesen Hingabe an das Göttliche und Verachtung unsrer selbst ist. Den Haupteinfluß, namentlich auch auf die Methode des mittelalterlichen Studiums und Unterrichts hatten Cassiodorus und Boßthius, jener einst Minister am Hofe der Ostgotdentonige in Ravenna, dann Mönch in Ca- labrien, dieser Senator zu Rom in Theodorichs Zeit. Diese Männer sind bis zu einem gewissen Grade als diejenigen anzusehen, welche die Grundsteine zum Gebäude der Universität des Mittelalters, soweit sie Studienanstalt ist, legten und in dieser Beziehung den Plan zu dem Ganzen entwarfen. Die Klosterschule, welche Cassiodor als Ersatz für die damals allmälig ein¬ gehenden weltlichen Bildungsinstitute für Rhetorik, Philosophie und Rechts¬ wissenschaft gründete, wurde das Muster für alle späteren geistlichen Lehran¬ stalten und in der Hauptsache auch für die dann neben diesen aufblühenden Hochschulen. Die Anweisung zum Studiren. die er für seine Mönche schrieb, hat bis auf die neuere Zeit herab und in katholischen Ländern sowie in Eng¬ land bis lief in diese Zeit hinein im Allgemeinen als Norm gegolten. Von ihm wurde jene bei Macrobius zuerst vorkommende Eintheilung des gelehrten Wissens in sieben Künste und zwei Hauptclassen, das trivium und das quaÄri- vium, welche das ganze Mittelalter hindurch Geltung behielt, diesem zuerst ver¬ mittelt, und von ihm stammt die Richtung, nach welcher Schulen und Universi¬ täten sich mit ihrem Unterricht vor allem an das Gedächtniß wendeten. Daß er durch seine Chronik dazu beitrug, wenigstens das Gerippe der historischen Wissenschaft zu sichern, die sonst zur bloßen Sagenerzählung und zum Ritter- Grenzboten I. 18KK. 68

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/485>, abgerufen am 22.12.2024.