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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Absicht fordern, einmal, uns an einen hervorragenden Mann zu erinnern und
zur Kenntniß seines Lebens und Charakters beizutragen, und dann, eine auch
für sich charakteristische und durch selbständigen Inhalt fesselnde Lectüre zu bieten.
Wo letzteres Erforderniß fehlt, da kann immer noch, z. B. bei großen Schrift¬
stellern, die Betrachtung maßgebend sein, daß man keine Aeußerung ihres
Geistes untergehen lassen will; aber hier wird schon die Grenze leicht über¬
schritten werden, jenseits deren es tadelnswerth wird, Aeußerungen, die der
Schreiber nie zur Veröffentlichung bestimmt hatte, als Documente seines Geistes
zu ediren.

In andern Künsten und Fertigkeiten fällt aber auch dies Erforderniß weg,
und es trägt zum Ruhme eines ausgezeichneten Malers oder Musikers nichts
bei, wenn man bestrebt ist, auch jedes seiner Worte zu retten. Seine schrift¬
lichen Aeußerungen bieten ein wichtiges Material für die Kenntniß seines Lebens
und Charakters; ein Recht auf separate Bekanntmachung gewinnen sie erst dann,
wenn ihnen als solchen eine selbständige, charakteristische Bedeutung innewohnt;
und dies wird bei Briefen namentlich erst dann eintreten, wenn der Verfasser,
abgesehen von einer auch in ihnen hervortretenden geistigen Individualität, ein
sorgfältiger und regelmäßiger Briefschreiber ist und nicht erst gelegentlich und
ungern dazu schreitet.

Jene beiden Erfordernisse trafen bei Mendelssohn zusammen, und darum
machte das Erscheinen seiner Briefe ein so großes und verdientes Aufsehen; sie
geben uns nicht blos umfassende Nachricht über das reiche Leben dieses Künstlers,
sondern bewähren sich selbst als Erzeugnisse eines lebhaften, vielseitig gebildeten
Geistes, dem Talent und Gewöhnung den Ausdruck durchs Wort fast so ge¬
läufig gemacht hatten wie durch den Ton. und der sich sowohl über äußere
Eindrücke, wie über Fragen seiner Kunst in der beredtesten und anziehendsten
Weise zu äußern weiß.

Bei Beethoven ist das völlig anders. Zunächst war er, was er auch selbst
von sich sagt, kein emsiger Briefschreiber. Zwar nennt ihn Herr Rost den
"schreibseligen Meister"; aber sein eigenes Verzeichnis^ mußte ihn darauf führen,
wie unverdient diese Bezeichnung sei. Seine Sammlung enthält, nebst dem
Anhange, 411 Nummern. Von diesen sind zunächst 26 Nummern, von denen
später zu reden ist, abzuziehen, da sie keine Briefe sind; es bleiben also 385
Briefe, und diese erstrecken sich über einen Zeitraum von ungefähr 34 Jahren
(1793 -- 1827), so daß durchschnittlich aufs Jahr etwa 12 Briefe kommen.
Nehmen wir nun auch die 83 von Köchel neu edirten Briefe an Erzherzog
Rudolph. nehmen wir die etwa 250 Briefe, die sich in den Sammlungen
anderer Beethovenforscher befinden*), und von denen Herr Rost nichts weiß,



") Wir verdanken diese Angabe einer brieflichen Privatmittheilung und theilen sie nach
vorheriger Erlaubniß mit.

Absicht fordern, einmal, uns an einen hervorragenden Mann zu erinnern und
zur Kenntniß seines Lebens und Charakters beizutragen, und dann, eine auch
für sich charakteristische und durch selbständigen Inhalt fesselnde Lectüre zu bieten.
Wo letzteres Erforderniß fehlt, da kann immer noch, z. B. bei großen Schrift¬
stellern, die Betrachtung maßgebend sein, daß man keine Aeußerung ihres
Geistes untergehen lassen will; aber hier wird schon die Grenze leicht über¬
schritten werden, jenseits deren es tadelnswerth wird, Aeußerungen, die der
Schreiber nie zur Veröffentlichung bestimmt hatte, als Documente seines Geistes
zu ediren.

In andern Künsten und Fertigkeiten fällt aber auch dies Erforderniß weg,
und es trägt zum Ruhme eines ausgezeichneten Malers oder Musikers nichts
bei, wenn man bestrebt ist, auch jedes seiner Worte zu retten. Seine schrift¬
lichen Aeußerungen bieten ein wichtiges Material für die Kenntniß seines Lebens
und Charakters; ein Recht auf separate Bekanntmachung gewinnen sie erst dann,
wenn ihnen als solchen eine selbständige, charakteristische Bedeutung innewohnt;
und dies wird bei Briefen namentlich erst dann eintreten, wenn der Verfasser,
abgesehen von einer auch in ihnen hervortretenden geistigen Individualität, ein
sorgfältiger und regelmäßiger Briefschreiber ist und nicht erst gelegentlich und
ungern dazu schreitet.

Jene beiden Erfordernisse trafen bei Mendelssohn zusammen, und darum
machte das Erscheinen seiner Briefe ein so großes und verdientes Aufsehen; sie
geben uns nicht blos umfassende Nachricht über das reiche Leben dieses Künstlers,
sondern bewähren sich selbst als Erzeugnisse eines lebhaften, vielseitig gebildeten
Geistes, dem Talent und Gewöhnung den Ausdruck durchs Wort fast so ge¬
läufig gemacht hatten wie durch den Ton. und der sich sowohl über äußere
Eindrücke, wie über Fragen seiner Kunst in der beredtesten und anziehendsten
Weise zu äußern weiß.

Bei Beethoven ist das völlig anders. Zunächst war er, was er auch selbst
von sich sagt, kein emsiger Briefschreiber. Zwar nennt ihn Herr Rost den
„schreibseligen Meister"; aber sein eigenes Verzeichnis^ mußte ihn darauf führen,
wie unverdient diese Bezeichnung sei. Seine Sammlung enthält, nebst dem
Anhange, 411 Nummern. Von diesen sind zunächst 26 Nummern, von denen
später zu reden ist, abzuziehen, da sie keine Briefe sind; es bleiben also 385
Briefe, und diese erstrecken sich über einen Zeitraum von ungefähr 34 Jahren
(1793 — 1827), so daß durchschnittlich aufs Jahr etwa 12 Briefe kommen.
Nehmen wir nun auch die 83 von Köchel neu edirten Briefe an Erzherzog
Rudolph. nehmen wir die etwa 250 Briefe, die sich in den Sammlungen
anderer Beethovenforscher befinden*), und von denen Herr Rost nichts weiß,



") Wir verdanken diese Angabe einer brieflichen Privatmittheilung und theilen sie nach
vorheriger Erlaubniß mit.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/386>, abgerufen am 22.07.2024.