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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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bringen, so nahm Wachsmuth jedenfalls in letzterer Classe einen der rühmlich¬
sten Plätze ein. Welchen Stoff er auch erfassen mochte -- überall trägt sein
Werk den Stempel vollständiger Orientirung über die Bedingungen seiner Auf¬
gabe, sowie gründlicher, eigener Durcharbeitung an sich; bei mehrern seiner
Bücher, wie bei seiner europäischen Sittengeschichte, seiner Geschichte der fran¬
zösischen Revolution, ging eine öftere Behandlung in Vorlesungen der schrift¬
stellerischen Arbeit voran. Und daß es seinen Werken, so verschiedenartige
Stoffe sie behandeln, doch nicht an Einem, individuellen Gepräge fehlt, dafür
ist schon durch den Stil gesorgt. Derselbe ist ihm durchaus eigenthümlich, aus
einem Streben nach prägnanter Kürze, nach gewähltem und gehaltvollen Aus¬
druck entstanden, und mit zunehmender Leichtigkeit hat Wachsmuth denselben,
je weiter er in seiner schriftstellerischen Laufbahn vorwärts gerückt, handhaben
lernen. Nicht minder aber giebt sich seine Eigenartigkeit in der Wahl seiner
Gegenstände zu erkennen; zumal in der letzten Zeit liebte er es, sich Aufgaben
von besonderer Beschaffenheit zu stellen, Aufgaben, mit deren Lösung irgendeine
durch die Zeit aufgebrachte Frage eine geschichtliche Beantwortung, irgendeine
die Gegenwart bewegende Erscheinung ihre historische Erklärung finden zu müssen
schien; wie denn in dieser Beziehung namentlich seine Geschichte der deutschen
Nationalität einem jeden, der ihr .eine eingehende Aufmerksamkeit widmet, die
mannigfachsten Anregungen bieten wird. Fragen wir aber nach der allgemeinen
Welt- und Lebensansicht, die sich in Wachsmuths Auffassung der historischen
Dinge abspiegelt, so erklärt Wachsmuth selbst, daß eigentliche Schulphilosophie,
-- in der Zeit seiner Entwicklung so mächtig und alle Wissenschaften sich zu
unterwerfen trachtend -- ihn fast unberührt gelassen. Im Wesentlichen haben
wir in ihm den Mann der edlen Humanität, in welcher zu Anfang unseres
Jahrhunderts, unter den Einwirkungen der durch Kant geläuterten Aufklärung
und der schönen Literatur, die Mehrzahl unserer Gebildeten ihr Lebenselement
finden lernte. Sowie er als Philosoph keiner bestimmten Schule angehörte, so
konnte ihn als Politiker keine Partei unter ihre eigentlichen Mitglieder zählen;
daß ein im Jahre 1848 angestellter Versuch, auf dem Felde der praktischen
Politik zu verkehren, nicht zu seiner Befriedigung auffiel, gesteht er selbst.
Keineswegs aber mangelt es in seinen Werken an einer auch politischen Kritik
der Begebenheiten. Ausgehend von dem festen Glauben an Beruf und Fähig¬
keit der Menschheit zu wirklicher Weiterentwicklung, richtet sie sich gegen die
Ausschreitungen, zu denen unnatürliche Hemmungen wie Förderungen dieser
Entwicklung geführt, mit besonderem Nachdruck aber gegen alles falsche Spiel,
welches, die Partei heiße wie sie wolle, der Egoismus mit dem Dienste der
Idee getrieben. Diese Kritik wirft ihre Lichter und Schatten oft mehr in kurzen
Andeutungen, als in starken Auslassungen auf die Gegenstände; neben Män¬
nern wie Schlosser oder den liberalen und radicalen Parteihistorikern pflegte


bringen, so nahm Wachsmuth jedenfalls in letzterer Classe einen der rühmlich¬
sten Plätze ein. Welchen Stoff er auch erfassen mochte — überall trägt sein
Werk den Stempel vollständiger Orientirung über die Bedingungen seiner Auf¬
gabe, sowie gründlicher, eigener Durcharbeitung an sich; bei mehrern seiner
Bücher, wie bei seiner europäischen Sittengeschichte, seiner Geschichte der fran¬
zösischen Revolution, ging eine öftere Behandlung in Vorlesungen der schrift¬
stellerischen Arbeit voran. Und daß es seinen Werken, so verschiedenartige
Stoffe sie behandeln, doch nicht an Einem, individuellen Gepräge fehlt, dafür
ist schon durch den Stil gesorgt. Derselbe ist ihm durchaus eigenthümlich, aus
einem Streben nach prägnanter Kürze, nach gewähltem und gehaltvollen Aus¬
druck entstanden, und mit zunehmender Leichtigkeit hat Wachsmuth denselben,
je weiter er in seiner schriftstellerischen Laufbahn vorwärts gerückt, handhaben
lernen. Nicht minder aber giebt sich seine Eigenartigkeit in der Wahl seiner
Gegenstände zu erkennen; zumal in der letzten Zeit liebte er es, sich Aufgaben
von besonderer Beschaffenheit zu stellen, Aufgaben, mit deren Lösung irgendeine
durch die Zeit aufgebrachte Frage eine geschichtliche Beantwortung, irgendeine
die Gegenwart bewegende Erscheinung ihre historische Erklärung finden zu müssen
schien; wie denn in dieser Beziehung namentlich seine Geschichte der deutschen
Nationalität einem jeden, der ihr .eine eingehende Aufmerksamkeit widmet, die
mannigfachsten Anregungen bieten wird. Fragen wir aber nach der allgemeinen
Welt- und Lebensansicht, die sich in Wachsmuths Auffassung der historischen
Dinge abspiegelt, so erklärt Wachsmuth selbst, daß eigentliche Schulphilosophie,
— in der Zeit seiner Entwicklung so mächtig und alle Wissenschaften sich zu
unterwerfen trachtend — ihn fast unberührt gelassen. Im Wesentlichen haben
wir in ihm den Mann der edlen Humanität, in welcher zu Anfang unseres
Jahrhunderts, unter den Einwirkungen der durch Kant geläuterten Aufklärung
und der schönen Literatur, die Mehrzahl unserer Gebildeten ihr Lebenselement
finden lernte. Sowie er als Philosoph keiner bestimmten Schule angehörte, so
konnte ihn als Politiker keine Partei unter ihre eigentlichen Mitglieder zählen;
daß ein im Jahre 1848 angestellter Versuch, auf dem Felde der praktischen
Politik zu verkehren, nicht zu seiner Befriedigung auffiel, gesteht er selbst.
Keineswegs aber mangelt es in seinen Werken an einer auch politischen Kritik
der Begebenheiten. Ausgehend von dem festen Glauben an Beruf und Fähig¬
keit der Menschheit zu wirklicher Weiterentwicklung, richtet sie sich gegen die
Ausschreitungen, zu denen unnatürliche Hemmungen wie Förderungen dieser
Entwicklung geführt, mit besonderem Nachdruck aber gegen alles falsche Spiel,
welches, die Partei heiße wie sie wolle, der Egoismus mit dem Dienste der
Idee getrieben. Diese Kritik wirft ihre Lichter und Schatten oft mehr in kurzen
Andeutungen, als in starken Auslassungen auf die Gegenstände; neben Män¬
nern wie Schlosser oder den liberalen und radicalen Parteihistorikern pflegte


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[0364] bringen, so nahm Wachsmuth jedenfalls in letzterer Classe einen der rühmlich¬ sten Plätze ein. Welchen Stoff er auch erfassen mochte — überall trägt sein Werk den Stempel vollständiger Orientirung über die Bedingungen seiner Auf¬ gabe, sowie gründlicher, eigener Durcharbeitung an sich; bei mehrern seiner Bücher, wie bei seiner europäischen Sittengeschichte, seiner Geschichte der fran¬ zösischen Revolution, ging eine öftere Behandlung in Vorlesungen der schrift¬ stellerischen Arbeit voran. Und daß es seinen Werken, so verschiedenartige Stoffe sie behandeln, doch nicht an Einem, individuellen Gepräge fehlt, dafür ist schon durch den Stil gesorgt. Derselbe ist ihm durchaus eigenthümlich, aus einem Streben nach prägnanter Kürze, nach gewähltem und gehaltvollen Aus¬ druck entstanden, und mit zunehmender Leichtigkeit hat Wachsmuth denselben, je weiter er in seiner schriftstellerischen Laufbahn vorwärts gerückt, handhaben lernen. Nicht minder aber giebt sich seine Eigenartigkeit in der Wahl seiner Gegenstände zu erkennen; zumal in der letzten Zeit liebte er es, sich Aufgaben von besonderer Beschaffenheit zu stellen, Aufgaben, mit deren Lösung irgendeine durch die Zeit aufgebrachte Frage eine geschichtliche Beantwortung, irgendeine die Gegenwart bewegende Erscheinung ihre historische Erklärung finden zu müssen schien; wie denn in dieser Beziehung namentlich seine Geschichte der deutschen Nationalität einem jeden, der ihr .eine eingehende Aufmerksamkeit widmet, die mannigfachsten Anregungen bieten wird. Fragen wir aber nach der allgemeinen Welt- und Lebensansicht, die sich in Wachsmuths Auffassung der historischen Dinge abspiegelt, so erklärt Wachsmuth selbst, daß eigentliche Schulphilosophie, — in der Zeit seiner Entwicklung so mächtig und alle Wissenschaften sich zu unterwerfen trachtend — ihn fast unberührt gelassen. Im Wesentlichen haben wir in ihm den Mann der edlen Humanität, in welcher zu Anfang unseres Jahrhunderts, unter den Einwirkungen der durch Kant geläuterten Aufklärung und der schönen Literatur, die Mehrzahl unserer Gebildeten ihr Lebenselement finden lernte. Sowie er als Philosoph keiner bestimmten Schule angehörte, so konnte ihn als Politiker keine Partei unter ihre eigentlichen Mitglieder zählen; daß ein im Jahre 1848 angestellter Versuch, auf dem Felde der praktischen Politik zu verkehren, nicht zu seiner Befriedigung auffiel, gesteht er selbst. Keineswegs aber mangelt es in seinen Werken an einer auch politischen Kritik der Begebenheiten. Ausgehend von dem festen Glauben an Beruf und Fähig¬ keit der Menschheit zu wirklicher Weiterentwicklung, richtet sie sich gegen die Ausschreitungen, zu denen unnatürliche Hemmungen wie Förderungen dieser Entwicklung geführt, mit besonderem Nachdruck aber gegen alles falsche Spiel, welches, die Partei heiße wie sie wolle, der Egoismus mit dem Dienste der Idee getrieben. Diese Kritik wirft ihre Lichter und Schatten oft mehr in kurzen Andeutungen, als in starken Auslassungen auf die Gegenstände; neben Män¬ nern wie Schlosser oder den liberalen und radicalen Parteihistorikern pflegte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/364>, abgerufen am 03.07.2024.