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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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der äußerste Norden und der äußerste Süden Europas darin begegneten, daß
sie -- d. h. Skandinavien und Italien -- die nationale Einheit auf dem Wege
der Freiheit suchten. Allenthalben anderswo dagegen, mit Ausnahme des po¬
litisch und geographisch gleich isolirten Englands, scheine man die Einheit um
einen viel höheren Preis einhandeln zu wollen, als sie werth sei, nämlich um
den Verlust der Freiheit und inneren Selbständigkeit. "Und das gilt," sagt
der königliche Secretär Tersmeden, "nicht blos von den rein absolutistischen
Reichen, sondern in vollem Maße auch vom heutigen Deutschland. Man will
dort mehr als früher die Einheit, aber Einheit von einer ganz seltsamen Art,
nämlich preußische Einheit -- eine Einheit in Form, Farbe und Zuschnitt rein,
ungemischt preußisch. So weit scheint es gekommen zu sein mit dem uralten,
viel besungenen Germanien Hermanns des Befreiers, mit eines Fichtes, eines
Arndts Vaterland." Dieser Wehklage in Odins Hain liegt theils eine sehr
unzulängliche Beobachtung zu Grunde, die das deutsche Volk, ohne es zu
wollen, fast schmeichelhafter beurtheilt als gerechtfertigt ist, -- theils aber auch
jene sonderbare Auffassung von Preußen als einer Art gemäßigten Rußlands,
welche im Norden Europas überhaupt herumspukt, zumal seit die Dänen die
Verbreitung dieses Gespensterglaubens in ihrem Interesse gefunden haben. Würde
der königliche Secretär Tersmeden denn auch so viel dagegen einzuwenden ha¬
ben, wenn Skandinavien, statt des notgedrungen zunächst projectirten Bundes¬
staats, "in Form, Farbe und Zuschnitt" eine "rein, ungemischt schwedische Ein¬
heit" annähme und der strafferen Zusammenfassung seiner Kräfte nach außen
hin wenn auch nicht die Freiheit, so doch einige kleine Stücke innerer Selb¬
ständigkeit opferte? Hat doch auch Italien, Skandinaviens vielbelobtes Vor¬
bild, der Einheit nicht wenig innere Selbständigkeit geopfert! und geht doch
keines deutschen Patrioten Wunsch über das Maß von Einheit hinaus, welches
er in Italien seit sechs Jahren glücklich verwirklicht sieht. Unser schwedischer
Ankläger sollte sich die Programme unsrer nationalen Parteien, und was mehr
bedeutet, deren tägliche politische Action in Preußen sowohl als in den übrigen
Einzelstaaten doch erst etwas näher ansehen, bevor er die Manen Hermanns,
Fichtes und Arndts gegen ihre vermeintlich entarteten Söhne heraufbeschwöre.
Mit der eiteln Einbildung, "die älteste hoch- und freigeborne Familie unter
den Nationen Europas" zu sein, werden die drei nordischen Völker ihre Zu¬
kunft, auf die jener leichtsinnige Redner sein Glas leerte, noch lange nicht glück¬
lich gestalten, sondern lediglich mit rechtzeitiger Erkenntniß der Nothwendigkeit,
sich gegen Rußlands drohende Last und Wucht aus das sich verjüngende, von
Preußen geführte und vertretene Deutschland zu stützen und den selbstverständ¬
lichen Preis, die heutige deutsch-dänische Grenze zu respectiren.

Im Uebrigen ist die skandinavische Einheitsbewegung mit diesem Winter
über das Bereich der patriotischen Wünsche, Reden und Artikel hinaus in das


der äußerste Norden und der äußerste Süden Europas darin begegneten, daß
sie — d. h. Skandinavien und Italien — die nationale Einheit auf dem Wege
der Freiheit suchten. Allenthalben anderswo dagegen, mit Ausnahme des po¬
litisch und geographisch gleich isolirten Englands, scheine man die Einheit um
einen viel höheren Preis einhandeln zu wollen, als sie werth sei, nämlich um
den Verlust der Freiheit und inneren Selbständigkeit. „Und das gilt," sagt
der königliche Secretär Tersmeden, „nicht blos von den rein absolutistischen
Reichen, sondern in vollem Maße auch vom heutigen Deutschland. Man will
dort mehr als früher die Einheit, aber Einheit von einer ganz seltsamen Art,
nämlich preußische Einheit — eine Einheit in Form, Farbe und Zuschnitt rein,
ungemischt preußisch. So weit scheint es gekommen zu sein mit dem uralten,
viel besungenen Germanien Hermanns des Befreiers, mit eines Fichtes, eines
Arndts Vaterland." Dieser Wehklage in Odins Hain liegt theils eine sehr
unzulängliche Beobachtung zu Grunde, die das deutsche Volk, ohne es zu
wollen, fast schmeichelhafter beurtheilt als gerechtfertigt ist, — theils aber auch
jene sonderbare Auffassung von Preußen als einer Art gemäßigten Rußlands,
welche im Norden Europas überhaupt herumspukt, zumal seit die Dänen die
Verbreitung dieses Gespensterglaubens in ihrem Interesse gefunden haben. Würde
der königliche Secretär Tersmeden denn auch so viel dagegen einzuwenden ha¬
ben, wenn Skandinavien, statt des notgedrungen zunächst projectirten Bundes¬
staats, „in Form, Farbe und Zuschnitt" eine „rein, ungemischt schwedische Ein¬
heit" annähme und der strafferen Zusammenfassung seiner Kräfte nach außen
hin wenn auch nicht die Freiheit, so doch einige kleine Stücke innerer Selb¬
ständigkeit opferte? Hat doch auch Italien, Skandinaviens vielbelobtes Vor¬
bild, der Einheit nicht wenig innere Selbständigkeit geopfert! und geht doch
keines deutschen Patrioten Wunsch über das Maß von Einheit hinaus, welches
er in Italien seit sechs Jahren glücklich verwirklicht sieht. Unser schwedischer
Ankläger sollte sich die Programme unsrer nationalen Parteien, und was mehr
bedeutet, deren tägliche politische Action in Preußen sowohl als in den übrigen
Einzelstaaten doch erst etwas näher ansehen, bevor er die Manen Hermanns,
Fichtes und Arndts gegen ihre vermeintlich entarteten Söhne heraufbeschwöre.
Mit der eiteln Einbildung, „die älteste hoch- und freigeborne Familie unter
den Nationen Europas" zu sein, werden die drei nordischen Völker ihre Zu¬
kunft, auf die jener leichtsinnige Redner sein Glas leerte, noch lange nicht glück¬
lich gestalten, sondern lediglich mit rechtzeitiger Erkenntniß der Nothwendigkeit,
sich gegen Rußlands drohende Last und Wucht aus das sich verjüngende, von
Preußen geführte und vertretene Deutschland zu stützen und den selbstverständ¬
lichen Preis, die heutige deutsch-dänische Grenze zu respectiren.

Im Uebrigen ist die skandinavische Einheitsbewegung mit diesem Winter
über das Bereich der patriotischen Wünsche, Reden und Artikel hinaus in das


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[0296] der äußerste Norden und der äußerste Süden Europas darin begegneten, daß sie — d. h. Skandinavien und Italien — die nationale Einheit auf dem Wege der Freiheit suchten. Allenthalben anderswo dagegen, mit Ausnahme des po¬ litisch und geographisch gleich isolirten Englands, scheine man die Einheit um einen viel höheren Preis einhandeln zu wollen, als sie werth sei, nämlich um den Verlust der Freiheit und inneren Selbständigkeit. „Und das gilt," sagt der königliche Secretär Tersmeden, „nicht blos von den rein absolutistischen Reichen, sondern in vollem Maße auch vom heutigen Deutschland. Man will dort mehr als früher die Einheit, aber Einheit von einer ganz seltsamen Art, nämlich preußische Einheit — eine Einheit in Form, Farbe und Zuschnitt rein, ungemischt preußisch. So weit scheint es gekommen zu sein mit dem uralten, viel besungenen Germanien Hermanns des Befreiers, mit eines Fichtes, eines Arndts Vaterland." Dieser Wehklage in Odins Hain liegt theils eine sehr unzulängliche Beobachtung zu Grunde, die das deutsche Volk, ohne es zu wollen, fast schmeichelhafter beurtheilt als gerechtfertigt ist, — theils aber auch jene sonderbare Auffassung von Preußen als einer Art gemäßigten Rußlands, welche im Norden Europas überhaupt herumspukt, zumal seit die Dänen die Verbreitung dieses Gespensterglaubens in ihrem Interesse gefunden haben. Würde der königliche Secretär Tersmeden denn auch so viel dagegen einzuwenden ha¬ ben, wenn Skandinavien, statt des notgedrungen zunächst projectirten Bundes¬ staats, „in Form, Farbe und Zuschnitt" eine „rein, ungemischt schwedische Ein¬ heit" annähme und der strafferen Zusammenfassung seiner Kräfte nach außen hin wenn auch nicht die Freiheit, so doch einige kleine Stücke innerer Selb¬ ständigkeit opferte? Hat doch auch Italien, Skandinaviens vielbelobtes Vor¬ bild, der Einheit nicht wenig innere Selbständigkeit geopfert! und geht doch keines deutschen Patrioten Wunsch über das Maß von Einheit hinaus, welches er in Italien seit sechs Jahren glücklich verwirklicht sieht. Unser schwedischer Ankläger sollte sich die Programme unsrer nationalen Parteien, und was mehr bedeutet, deren tägliche politische Action in Preußen sowohl als in den übrigen Einzelstaaten doch erst etwas näher ansehen, bevor er die Manen Hermanns, Fichtes und Arndts gegen ihre vermeintlich entarteten Söhne heraufbeschwöre. Mit der eiteln Einbildung, „die älteste hoch- und freigeborne Familie unter den Nationen Europas" zu sein, werden die drei nordischen Völker ihre Zu¬ kunft, auf die jener leichtsinnige Redner sein Glas leerte, noch lange nicht glück¬ lich gestalten, sondern lediglich mit rechtzeitiger Erkenntniß der Nothwendigkeit, sich gegen Rußlands drohende Last und Wucht aus das sich verjüngende, von Preußen geführte und vertretene Deutschland zu stützen und den selbstverständ¬ lichen Preis, die heutige deutsch-dänische Grenze zu respectiren. Im Uebrigen ist die skandinavische Einheitsbewegung mit diesem Winter über das Bereich der patriotischen Wünsche, Reden und Artikel hinaus in das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/296>, abgerufen am 22.07.2024.