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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Jahrhundert zwischen der asiatischen Banise und dem Simplicissimus, in der
^ersten Hälfte des achtzehnten zwischen den Gottschedianem und den Robinsonaden
bestand. Auch Lessing. Goethe und Schiller waren, da sie lebten, dem Volke
gelehrte Dichter, und wenn durch einige Jahre die gesammte Bildung durch
Weimar regiert wurde, und die Popularität Schillers, zumal nach seinem
Tode, in Norddeutschland auch diesen Kleinen Concurrenz machte, unter den
Romantikern traten sie wieder ihre selten gestörte Herrschaft in den Familien
der wohlhabenden Bürger, Beamten und des Landadels an, und sie sind darin
geblieben, bis englische und französische Übersetzungen, die geistige Einwirkung
der Fremden sie zurückdrängten. . ,

> Die Männer, welche die politische Katastrophe von 1806 herbeiführten
und ertrugen, sind nicht durch Goethe gebildet, sondern durch Lafontaine. Auch
die Gemüthswärme, welche 1813 zu hellen Flammen aufschlug, wurde den
Seelen weit mehr durch Iffland, als durch Schiller, erhalten. Die Generation,
welche nach dem Frieden in den Staaten der heiligen Allianz still dahinlebte,
ist für ihre politische Indifferenz und schwächliche Loyalität nicht Tieck und den
Schlegeln verpflichtet, sondern den unreinlichen Lieblingen der Leihbibliotheken
und den Novellisten der Dresdner Abendzeitung. Als in der kleinen Revolution
Sachsens 1830 höfliche Versuche gemacht wurden, den Inhalt einiger Woh¬
nungen zum Fenster hinauszuwerfen, da hatten die Eifriger nicht die Hermanns¬
schlacht von Kleist, sondern Hasper a Spada und Rinaldo Rinaldini gelesen,
und die Begeisterung für die Straßentumulte und Barrikaden des Jahres 1848
wurde nicht durch "Das junge Europa" von Laube und durch Gutzkows "Wally",
sondern durch die Romane von Eugen Sue aufgeregt.

Erst das Jahr 1848, welches dem Volk die Theilnahme am Staate gab,
und jeden Einzelnen in hundertfache neue Beziehungen zu dem großen Strome
unseres Kulturlebens setzte, hat auch diesen Unterschied in der geistigen Nahrung
der Anspruchsvollen und der Menge aufgehoben, der in dem centralisirten Frank¬
reich, in dem politisch bewegten England niemals zu solcher Schärfe entwickelt
war, in Deutschland aber seit dem dreißigjährigen Kriege zur Signatur unseres
verkommenen Lebens gehört hat. Denn was wir jetzt, wie Franzosen und
Engländer, Volksliteratur nennen, ist etwas ganz Anderes.

In unsern neuen Literaturgeschichten ist bis jetzt dies eigenthümliche Ver¬
hältniß zwischen Literatur der Hochgebildeten und Literatur der anspruchslosen
Menge in der Regel wenig beachtet worden; vielleicht findet Julian Schmidt in
den späteren Bänden Veranlassung, diese Lücke auszufüllen.

Die besten Wünsche dieses Blattes folgen dem Werke. Der Verfasser hat
aufgehört, sich an den Grenzboten zu beteiligen, adeln das alte Bundesverhältniß,
welches auf der Erinnerung an vieljähriges gemeinsames Arbeiten ruht, dauert


Jahrhundert zwischen der asiatischen Banise und dem Simplicissimus, in der
^ersten Hälfte des achtzehnten zwischen den Gottschedianem und den Robinsonaden
bestand. Auch Lessing. Goethe und Schiller waren, da sie lebten, dem Volke
gelehrte Dichter, und wenn durch einige Jahre die gesammte Bildung durch
Weimar regiert wurde, und die Popularität Schillers, zumal nach seinem
Tode, in Norddeutschland auch diesen Kleinen Concurrenz machte, unter den
Romantikern traten sie wieder ihre selten gestörte Herrschaft in den Familien
der wohlhabenden Bürger, Beamten und des Landadels an, und sie sind darin
geblieben, bis englische und französische Übersetzungen, die geistige Einwirkung
der Fremden sie zurückdrängten. . ,

> Die Männer, welche die politische Katastrophe von 1806 herbeiführten
und ertrugen, sind nicht durch Goethe gebildet, sondern durch Lafontaine. Auch
die Gemüthswärme, welche 1813 zu hellen Flammen aufschlug, wurde den
Seelen weit mehr durch Iffland, als durch Schiller, erhalten. Die Generation,
welche nach dem Frieden in den Staaten der heiligen Allianz still dahinlebte,
ist für ihre politische Indifferenz und schwächliche Loyalität nicht Tieck und den
Schlegeln verpflichtet, sondern den unreinlichen Lieblingen der Leihbibliotheken
und den Novellisten der Dresdner Abendzeitung. Als in der kleinen Revolution
Sachsens 1830 höfliche Versuche gemacht wurden, den Inhalt einiger Woh¬
nungen zum Fenster hinauszuwerfen, da hatten die Eifriger nicht die Hermanns¬
schlacht von Kleist, sondern Hasper a Spada und Rinaldo Rinaldini gelesen,
und die Begeisterung für die Straßentumulte und Barrikaden des Jahres 1848
wurde nicht durch „Das junge Europa" von Laube und durch Gutzkows „Wally",
sondern durch die Romane von Eugen Sue aufgeregt.

Erst das Jahr 1848, welches dem Volk die Theilnahme am Staate gab,
und jeden Einzelnen in hundertfache neue Beziehungen zu dem großen Strome
unseres Kulturlebens setzte, hat auch diesen Unterschied in der geistigen Nahrung
der Anspruchsvollen und der Menge aufgehoben, der in dem centralisirten Frank¬
reich, in dem politisch bewegten England niemals zu solcher Schärfe entwickelt
war, in Deutschland aber seit dem dreißigjährigen Kriege zur Signatur unseres
verkommenen Lebens gehört hat. Denn was wir jetzt, wie Franzosen und
Engländer, Volksliteratur nennen, ist etwas ganz Anderes.

In unsern neuen Literaturgeschichten ist bis jetzt dies eigenthümliche Ver¬
hältniß zwischen Literatur der Hochgebildeten und Literatur der anspruchslosen
Menge in der Regel wenig beachtet worden; vielleicht findet Julian Schmidt in
den späteren Bänden Veranlassung, diese Lücke auszufüllen.

Die besten Wünsche dieses Blattes folgen dem Werke. Der Verfasser hat
aufgehört, sich an den Grenzboten zu beteiligen, adeln das alte Bundesverhältniß,
welches auf der Erinnerung an vieljähriges gemeinsames Arbeiten ruht, dauert


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[0264] Jahrhundert zwischen der asiatischen Banise und dem Simplicissimus, in der ^ersten Hälfte des achtzehnten zwischen den Gottschedianem und den Robinsonaden bestand. Auch Lessing. Goethe und Schiller waren, da sie lebten, dem Volke gelehrte Dichter, und wenn durch einige Jahre die gesammte Bildung durch Weimar regiert wurde, und die Popularität Schillers, zumal nach seinem Tode, in Norddeutschland auch diesen Kleinen Concurrenz machte, unter den Romantikern traten sie wieder ihre selten gestörte Herrschaft in den Familien der wohlhabenden Bürger, Beamten und des Landadels an, und sie sind darin geblieben, bis englische und französische Übersetzungen, die geistige Einwirkung der Fremden sie zurückdrängten. . , > Die Männer, welche die politische Katastrophe von 1806 herbeiführten und ertrugen, sind nicht durch Goethe gebildet, sondern durch Lafontaine. Auch die Gemüthswärme, welche 1813 zu hellen Flammen aufschlug, wurde den Seelen weit mehr durch Iffland, als durch Schiller, erhalten. Die Generation, welche nach dem Frieden in den Staaten der heiligen Allianz still dahinlebte, ist für ihre politische Indifferenz und schwächliche Loyalität nicht Tieck und den Schlegeln verpflichtet, sondern den unreinlichen Lieblingen der Leihbibliotheken und den Novellisten der Dresdner Abendzeitung. Als in der kleinen Revolution Sachsens 1830 höfliche Versuche gemacht wurden, den Inhalt einiger Woh¬ nungen zum Fenster hinauszuwerfen, da hatten die Eifriger nicht die Hermanns¬ schlacht von Kleist, sondern Hasper a Spada und Rinaldo Rinaldini gelesen, und die Begeisterung für die Straßentumulte und Barrikaden des Jahres 1848 wurde nicht durch „Das junge Europa" von Laube und durch Gutzkows „Wally", sondern durch die Romane von Eugen Sue aufgeregt. Erst das Jahr 1848, welches dem Volk die Theilnahme am Staate gab, und jeden Einzelnen in hundertfache neue Beziehungen zu dem großen Strome unseres Kulturlebens setzte, hat auch diesen Unterschied in der geistigen Nahrung der Anspruchsvollen und der Menge aufgehoben, der in dem centralisirten Frank¬ reich, in dem politisch bewegten England niemals zu solcher Schärfe entwickelt war, in Deutschland aber seit dem dreißigjährigen Kriege zur Signatur unseres verkommenen Lebens gehört hat. Denn was wir jetzt, wie Franzosen und Engländer, Volksliteratur nennen, ist etwas ganz Anderes. In unsern neuen Literaturgeschichten ist bis jetzt dies eigenthümliche Ver¬ hältniß zwischen Literatur der Hochgebildeten und Literatur der anspruchslosen Menge in der Regel wenig beachtet worden; vielleicht findet Julian Schmidt in den späteren Bänden Veranlassung, diese Lücke auszufüllen. Die besten Wünsche dieses Blattes folgen dem Werke. Der Verfasser hat aufgehört, sich an den Grenzboten zu beteiligen, adeln das alte Bundesverhältniß, welches auf der Erinnerung an vieljähriges gemeinsames Arbeiten ruht, dauert

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/264>, abgerufen am 22.07.2024.