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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Fortschritt betrachten, grade jetzt sehr innig, wie sehr wir der letzten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts, der Zeit großer Gefühle und Gedanken, verschuldet sind,
und es ist uns eine edle Freude geworden, zu untersuchen, wie sich die Lebenskraft
unserer Nation nach der Zerstörung im siebzehnten Jahrhundert Schritt für
Schritt erhob, wie geistige Arbeit der Großen und Vertiefung des Gemüthes
in dem Kleinen zusammenwirkten, um uns auf nationaler Grundlage zuerst
die idealen Güter, ernstes Ringen nach Wahrheit, sinniges Gestalten des Schönen,
zu verleihen, und wie endlich aus diesem Gewinn Empfänglichkeit für die
höchsten Culturaufgaben einer Nation, das Interesse am Staat erwuchs. Von
solchen und verwandten Gesichtspunkten aus wird die Geschichte der Literatur
eine Geschichte des geistigen Lebens unserer Nation, der Einzelne steigt auf
und taucht nieder in dem großen Strome unserer geistigen Bildung.

In der neuen Auflage hat deshalb der Verfasser die Lebenserscheinungen
unsrer Literatur zunächst in strengere chronologische Folge gebracht und so ein
Bild der fortlaufenden Entwickelung gegeben, welchem die einzelnen Schriftsteller
in geschickter Weise da eingeordnet werden, wo sie durch ihre Persönlichkeit
und größeren Werke einen Einfluß gewinnen.

Ferner aber ist auch seine Behandlung der einzelnen Porträts eine ganz
andere geworden; sie ruht auf einer sorgfältigen Betrachtung nicht nur ihrer
Schriften, auch ihrer Briefe, persönlichen Verhältnisse und der Urtheile von Zeit¬
genossen. Sorglich ist der Verfasser bemüht, diese Bilder dadurch zu beleben,
daß er seiner Kritik charakteristische Aeußerungen des Schriftstellers beifügt.
Seine Absicht ist, dem Leser dadurch den Inhalt des einzelnen Lebens in neuer
Weise nahe zu legen, das Urtheil, welches er darüber fällt, überall durch Be¬
lege zu stützen. Dieses Urtheil selbst mußte bei solcher Behandlung sowohl ein¬
gehender als maßvoller werden, häusig durfte sich der Verfasser bescheiden, nur
referirend bedeutungsvolle Worte der Geschilderten zu citiren und durch eine
kurze Bemerkung die Auffassung des Lesers zu leiten; am müsten gefällt er uns,
wo er auf solche charakteristische Aussprüche oder poetische Stellen sein eignes
Urtheil in reichlicher Ausführung aufbaut. Es ist klar, daß diese Behandlung
einer Literaturperiode grundverschieden von der früheren desselben Verfassers ist
und auch ganz andere Qualitäten seines eigenen Geistes und Charakters in den
Vordergrund stellt. Während in den früheren Auflagen eine energische und
schlagende Kritik vergangener Menschen nach den Bedürfnissen unserer Zeit
häufig eine Verurteilung sein mußte, steht jetzt die achtungsvolle Behand¬
lung der geistigen Führer vergangener Zeit im Vordergrund. Wo eine Be¬
urtheilung derselben sich auf Belegstellen stützt, die aus ihren Werken genommen
werden, da ist eine prüfende und unbefangene Auswahl des Charakteristischen
und Bedeutsamen Vorbedingung für eine gerechte Würdigung, und Tact, tiefe
Menschenkenntniß und eine erschöpfende Kenntniß der geistigen Production der


Fortschritt betrachten, grade jetzt sehr innig, wie sehr wir der letzten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts, der Zeit großer Gefühle und Gedanken, verschuldet sind,
und es ist uns eine edle Freude geworden, zu untersuchen, wie sich die Lebenskraft
unserer Nation nach der Zerstörung im siebzehnten Jahrhundert Schritt für
Schritt erhob, wie geistige Arbeit der Großen und Vertiefung des Gemüthes
in dem Kleinen zusammenwirkten, um uns auf nationaler Grundlage zuerst
die idealen Güter, ernstes Ringen nach Wahrheit, sinniges Gestalten des Schönen,
zu verleihen, und wie endlich aus diesem Gewinn Empfänglichkeit für die
höchsten Culturaufgaben einer Nation, das Interesse am Staat erwuchs. Von
solchen und verwandten Gesichtspunkten aus wird die Geschichte der Literatur
eine Geschichte des geistigen Lebens unserer Nation, der Einzelne steigt auf
und taucht nieder in dem großen Strome unserer geistigen Bildung.

In der neuen Auflage hat deshalb der Verfasser die Lebenserscheinungen
unsrer Literatur zunächst in strengere chronologische Folge gebracht und so ein
Bild der fortlaufenden Entwickelung gegeben, welchem die einzelnen Schriftsteller
in geschickter Weise da eingeordnet werden, wo sie durch ihre Persönlichkeit
und größeren Werke einen Einfluß gewinnen.

Ferner aber ist auch seine Behandlung der einzelnen Porträts eine ganz
andere geworden; sie ruht auf einer sorgfältigen Betrachtung nicht nur ihrer
Schriften, auch ihrer Briefe, persönlichen Verhältnisse und der Urtheile von Zeit¬
genossen. Sorglich ist der Verfasser bemüht, diese Bilder dadurch zu beleben,
daß er seiner Kritik charakteristische Aeußerungen des Schriftstellers beifügt.
Seine Absicht ist, dem Leser dadurch den Inhalt des einzelnen Lebens in neuer
Weise nahe zu legen, das Urtheil, welches er darüber fällt, überall durch Be¬
lege zu stützen. Dieses Urtheil selbst mußte bei solcher Behandlung sowohl ein¬
gehender als maßvoller werden, häusig durfte sich der Verfasser bescheiden, nur
referirend bedeutungsvolle Worte der Geschilderten zu citiren und durch eine
kurze Bemerkung die Auffassung des Lesers zu leiten; am müsten gefällt er uns,
wo er auf solche charakteristische Aussprüche oder poetische Stellen sein eignes
Urtheil in reichlicher Ausführung aufbaut. Es ist klar, daß diese Behandlung
einer Literaturperiode grundverschieden von der früheren desselben Verfassers ist
und auch ganz andere Qualitäten seines eigenen Geistes und Charakters in den
Vordergrund stellt. Während in den früheren Auflagen eine energische und
schlagende Kritik vergangener Menschen nach den Bedürfnissen unserer Zeit
häufig eine Verurteilung sein mußte, steht jetzt die achtungsvolle Behand¬
lung der geistigen Führer vergangener Zeit im Vordergrund. Wo eine Be¬
urtheilung derselben sich auf Belegstellen stützt, die aus ihren Werken genommen
werden, da ist eine prüfende und unbefangene Auswahl des Charakteristischen
und Bedeutsamen Vorbedingung für eine gerechte Würdigung, und Tact, tiefe
Menschenkenntniß und eine erschöpfende Kenntniß der geistigen Production der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/262>, abgerufen am 22.07.2024.