Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

vom 17. Juni 1848, welches der Ständeversammlung das Vorschlagsrecht bei
der Besetzung der Richterstellen giebt und die Unversetzbarkeit der Mitglieder
dieses Gerichts feststellt. Hier aber hängt eben die Entwickelung in Kur¬
hessen fest.

Der entscheidende Wille gedenkt nicht den Faden aus der Hand zu geben,
der es ihm immer wieder möglich machen soll, die freie Bewegung des Lebens
aus allen Gebieten nach Belieben zurückzustemmen. An Englands vielgerühmter
Verfassung ist bekanntlich das gerühmteste Moment, daß seine höhern Richter
vorzugsweise als Träger nicht des Privatrechts, sondern des öffentlichen Rechts
aufgefaßt werden. Deshalb sind diese Richter außer ihrer Unabsetzbarkeit und
Unversetzbarkeit mit denselben Gehalten versehen wie die Minister und erzwingen
Gehorsam gegen das Gesetz auch wider das Beamtenthum, also eben die Mi¬
nister. Eine solche Stellung aber will man in Kurhessen dem obersten Gerichts¬
hof, obwohl er nach der Verfassung zugleich Staatsgerichtshof ist, nicht einräumen,
und man will ihn nach seinen Wünschen zusammensetzen. Bis jetzt hat noch
kein Minister, obwohl die Anklagen bis zum Dutzend schon versucht worden sind,
mit Erfolg angeklagt werden können; wie anders aber will in dem kleinen,
von größeren Bundesstaaten abhängigen Staate eine Ständeversammlung die
Minister zwingen, ihren Regierungspflichten fleißig obzuliegen, und den Regenten
nöthigen, pflichtvergessene Minister zu entlassen! Dies ist aber lange nicht der
einzige Punkt, auf dem die besprochene provisorische Gesetzgebung der Hassen-
Pflug-Scheffer der Entwickelung des Landes entgegensteht. Die ganze Verwal¬
tung des Landes ist noch auf dem Fuße dieser Octroyirung.

Die Gemeinden sind auch nach der Gemeindeordnung von 1834 dadurch
von der Staatsregierung abhängig, daß diese durch ihre Organe die Bestätigung
der Bürgermeisterwahlen versagen kann, bei den Städten durch die Provinzial-
regierung, bei den Landgemeinden durch den Landrath, serner dadurch abhängig,
daß bestimmte Ausgaben und Veränderungen nicht ohne Genehmigung der
vorgesetzten Regierungsbehörde vorgenommen werden können*) und die Rech-
nungsabhörung durch Regierungsbeamte stattfindet. Die Ortspolizei wird unter
beständiger Aufsicht und Einmischung der Landräthe gehandhabt, die Landes¬
polizei ist ganz in den Händen unmittelbarer Staatsbeamten. Der Vorstand
der Kreise ist ein ganz vom Ministerium abhängiger Landrath mit einem Kreis-
secretär und einem Bezirksrath zur Seite, welcher letztere aber nur berathende
Stimme hat. Die Zwischenbehörde zwischen Landrath und Ministerium sind
Regierungscollegien mit einem Regierungsdirector an der Spitze. Sie entscheiden



") Die Stadt Kassel kann weder zum Bau einer für den Verkehr äußerst nothwendige"
Brückenwaage, noch zum Niederreißen des holländischen Thores, durch welches bedeutende
Maschinenfabriken nur mit Gefahr für das Leben ihrer Arbeiter ihre Transporte bewerkstelligen,
die höhere Genehmigung erhalten.

vom 17. Juni 1848, welches der Ständeversammlung das Vorschlagsrecht bei
der Besetzung der Richterstellen giebt und die Unversetzbarkeit der Mitglieder
dieses Gerichts feststellt. Hier aber hängt eben die Entwickelung in Kur¬
hessen fest.

Der entscheidende Wille gedenkt nicht den Faden aus der Hand zu geben,
der es ihm immer wieder möglich machen soll, die freie Bewegung des Lebens
aus allen Gebieten nach Belieben zurückzustemmen. An Englands vielgerühmter
Verfassung ist bekanntlich das gerühmteste Moment, daß seine höhern Richter
vorzugsweise als Träger nicht des Privatrechts, sondern des öffentlichen Rechts
aufgefaßt werden. Deshalb sind diese Richter außer ihrer Unabsetzbarkeit und
Unversetzbarkeit mit denselben Gehalten versehen wie die Minister und erzwingen
Gehorsam gegen das Gesetz auch wider das Beamtenthum, also eben die Mi¬
nister. Eine solche Stellung aber will man in Kurhessen dem obersten Gerichts¬
hof, obwohl er nach der Verfassung zugleich Staatsgerichtshof ist, nicht einräumen,
und man will ihn nach seinen Wünschen zusammensetzen. Bis jetzt hat noch
kein Minister, obwohl die Anklagen bis zum Dutzend schon versucht worden sind,
mit Erfolg angeklagt werden können; wie anders aber will in dem kleinen,
von größeren Bundesstaaten abhängigen Staate eine Ständeversammlung die
Minister zwingen, ihren Regierungspflichten fleißig obzuliegen, und den Regenten
nöthigen, pflichtvergessene Minister zu entlassen! Dies ist aber lange nicht der
einzige Punkt, auf dem die besprochene provisorische Gesetzgebung der Hassen-
Pflug-Scheffer der Entwickelung des Landes entgegensteht. Die ganze Verwal¬
tung des Landes ist noch auf dem Fuße dieser Octroyirung.

Die Gemeinden sind auch nach der Gemeindeordnung von 1834 dadurch
von der Staatsregierung abhängig, daß diese durch ihre Organe die Bestätigung
der Bürgermeisterwahlen versagen kann, bei den Städten durch die Provinzial-
regierung, bei den Landgemeinden durch den Landrath, serner dadurch abhängig,
daß bestimmte Ausgaben und Veränderungen nicht ohne Genehmigung der
vorgesetzten Regierungsbehörde vorgenommen werden können*) und die Rech-
nungsabhörung durch Regierungsbeamte stattfindet. Die Ortspolizei wird unter
beständiger Aufsicht und Einmischung der Landräthe gehandhabt, die Landes¬
polizei ist ganz in den Händen unmittelbarer Staatsbeamten. Der Vorstand
der Kreise ist ein ganz vom Ministerium abhängiger Landrath mit einem Kreis-
secretär und einem Bezirksrath zur Seite, welcher letztere aber nur berathende
Stimme hat. Die Zwischenbehörde zwischen Landrath und Ministerium sind
Regierungscollegien mit einem Regierungsdirector an der Spitze. Sie entscheiden



") Die Stadt Kassel kann weder zum Bau einer für den Verkehr äußerst nothwendige»
Brückenwaage, noch zum Niederreißen des holländischen Thores, durch welches bedeutende
Maschinenfabriken nur mit Gefahr für das Leben ihrer Arbeiter ihre Transporte bewerkstelligen,
die höhere Genehmigung erhalten.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0528" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/283881"/>
          <p xml:id="ID_1516" prev="#ID_1515"> vom 17. Juni 1848, welches der Ständeversammlung das Vorschlagsrecht bei<lb/>
der Besetzung der Richterstellen giebt und die Unversetzbarkeit der Mitglieder<lb/>
dieses Gerichts feststellt. Hier aber hängt eben die Entwickelung in Kur¬<lb/>
hessen fest.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1517"> Der entscheidende Wille gedenkt nicht den Faden aus der Hand zu geben,<lb/>
der es ihm immer wieder möglich machen soll, die freie Bewegung des Lebens<lb/>
aus allen Gebieten nach Belieben zurückzustemmen. An Englands vielgerühmter<lb/>
Verfassung ist bekanntlich das gerühmteste Moment, daß seine höhern Richter<lb/>
vorzugsweise als Träger nicht des Privatrechts, sondern des öffentlichen Rechts<lb/>
aufgefaßt werden. Deshalb sind diese Richter außer ihrer Unabsetzbarkeit und<lb/>
Unversetzbarkeit mit denselben Gehalten versehen wie die Minister und erzwingen<lb/>
Gehorsam gegen das Gesetz auch wider das Beamtenthum, also eben die Mi¬<lb/>
nister. Eine solche Stellung aber will man in Kurhessen dem obersten Gerichts¬<lb/>
hof, obwohl er nach der Verfassung zugleich Staatsgerichtshof ist, nicht einräumen,<lb/>
und man will ihn nach seinen Wünschen zusammensetzen. Bis jetzt hat noch<lb/>
kein Minister, obwohl die Anklagen bis zum Dutzend schon versucht worden sind,<lb/>
mit Erfolg angeklagt werden können; wie anders aber will in dem kleinen,<lb/>
von größeren Bundesstaaten abhängigen Staate eine Ständeversammlung die<lb/>
Minister zwingen, ihren Regierungspflichten fleißig obzuliegen, und den Regenten<lb/>
nöthigen, pflichtvergessene Minister zu entlassen! Dies ist aber lange nicht der<lb/>
einzige Punkt, auf dem die besprochene provisorische Gesetzgebung der Hassen-<lb/>
Pflug-Scheffer der Entwickelung des Landes entgegensteht. Die ganze Verwal¬<lb/>
tung des Landes ist noch auf dem Fuße dieser Octroyirung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1518" next="#ID_1519"> Die Gemeinden sind auch nach der Gemeindeordnung von 1834 dadurch<lb/>
von der Staatsregierung abhängig, daß diese durch ihre Organe die Bestätigung<lb/>
der Bürgermeisterwahlen versagen kann, bei den Städten durch die Provinzial-<lb/>
regierung, bei den Landgemeinden durch den Landrath, serner dadurch abhängig,<lb/>
daß bestimmte Ausgaben und Veränderungen nicht ohne Genehmigung der<lb/>
vorgesetzten Regierungsbehörde vorgenommen werden können*) und die Rech-<lb/>
nungsabhörung durch Regierungsbeamte stattfindet. Die Ortspolizei wird unter<lb/>
beständiger Aufsicht und Einmischung der Landräthe gehandhabt, die Landes¬<lb/>
polizei ist ganz in den Händen unmittelbarer Staatsbeamten. Der Vorstand<lb/>
der Kreise ist ein ganz vom Ministerium abhängiger Landrath mit einem Kreis-<lb/>
secretär und einem Bezirksrath zur Seite, welcher letztere aber nur berathende<lb/>
Stimme hat. Die Zwischenbehörde zwischen Landrath und Ministerium sind<lb/>
Regierungscollegien mit einem Regierungsdirector an der Spitze. Sie entscheiden</p><lb/>
          <note xml:id="FID_34" place="foot"> ") Die Stadt Kassel kann weder zum Bau einer für den Verkehr äußerst nothwendige»<lb/>
Brückenwaage, noch zum Niederreißen des holländischen Thores, durch welches bedeutende<lb/>
Maschinenfabriken nur mit Gefahr für das Leben ihrer Arbeiter ihre Transporte bewerkstelligen,<lb/>
die höhere Genehmigung erhalten.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0528] vom 17. Juni 1848, welches der Ständeversammlung das Vorschlagsrecht bei der Besetzung der Richterstellen giebt und die Unversetzbarkeit der Mitglieder dieses Gerichts feststellt. Hier aber hängt eben die Entwickelung in Kur¬ hessen fest. Der entscheidende Wille gedenkt nicht den Faden aus der Hand zu geben, der es ihm immer wieder möglich machen soll, die freie Bewegung des Lebens aus allen Gebieten nach Belieben zurückzustemmen. An Englands vielgerühmter Verfassung ist bekanntlich das gerühmteste Moment, daß seine höhern Richter vorzugsweise als Träger nicht des Privatrechts, sondern des öffentlichen Rechts aufgefaßt werden. Deshalb sind diese Richter außer ihrer Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit mit denselben Gehalten versehen wie die Minister und erzwingen Gehorsam gegen das Gesetz auch wider das Beamtenthum, also eben die Mi¬ nister. Eine solche Stellung aber will man in Kurhessen dem obersten Gerichts¬ hof, obwohl er nach der Verfassung zugleich Staatsgerichtshof ist, nicht einräumen, und man will ihn nach seinen Wünschen zusammensetzen. Bis jetzt hat noch kein Minister, obwohl die Anklagen bis zum Dutzend schon versucht worden sind, mit Erfolg angeklagt werden können; wie anders aber will in dem kleinen, von größeren Bundesstaaten abhängigen Staate eine Ständeversammlung die Minister zwingen, ihren Regierungspflichten fleißig obzuliegen, und den Regenten nöthigen, pflichtvergessene Minister zu entlassen! Dies ist aber lange nicht der einzige Punkt, auf dem die besprochene provisorische Gesetzgebung der Hassen- Pflug-Scheffer der Entwickelung des Landes entgegensteht. Die ganze Verwal¬ tung des Landes ist noch auf dem Fuße dieser Octroyirung. Die Gemeinden sind auch nach der Gemeindeordnung von 1834 dadurch von der Staatsregierung abhängig, daß diese durch ihre Organe die Bestätigung der Bürgermeisterwahlen versagen kann, bei den Städten durch die Provinzial- regierung, bei den Landgemeinden durch den Landrath, serner dadurch abhängig, daß bestimmte Ausgaben und Veränderungen nicht ohne Genehmigung der vorgesetzten Regierungsbehörde vorgenommen werden können*) und die Rech- nungsabhörung durch Regierungsbeamte stattfindet. Die Ortspolizei wird unter beständiger Aufsicht und Einmischung der Landräthe gehandhabt, die Landes¬ polizei ist ganz in den Händen unmittelbarer Staatsbeamten. Der Vorstand der Kreise ist ein ganz vom Ministerium abhängiger Landrath mit einem Kreis- secretär und einem Bezirksrath zur Seite, welcher letztere aber nur berathende Stimme hat. Die Zwischenbehörde zwischen Landrath und Ministerium sind Regierungscollegien mit einem Regierungsdirector an der Spitze. Sie entscheiden ") Die Stadt Kassel kann weder zum Bau einer für den Verkehr äußerst nothwendige» Brückenwaage, noch zum Niederreißen des holländischen Thores, durch welches bedeutende Maschinenfabriken nur mit Gefahr für das Leben ihrer Arbeiter ihre Transporte bewerkstelligen, die höhere Genehmigung erhalten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/528
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/528>, abgerufen am 15.01.2025.