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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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kehren häufig wieder, besonders in den Briefen an Corcelle. Bald tadelt er
die Herrschsucht der Geistlichen, bald ihr Anschmiegen an die Staatsgewalt (in
der ersten Periode des Kaiserthums) und ihre Gleichgiltigkeit oder gar Feind¬
schaft gegen die politische Freiheit. Er mißbilligt, daß das Urtheil der
Priester über politische Angelegenheiten ausschließlich von Ideen und Gefühlen
abhängig sei, die einem anderen Gebiete als dem politischen angehören. In
dieser Beziehung habe der Klerus deS aneierr rögimö, der keineswegs für die
Freiheit unempfänglich gewesen sei, viel höher gestanden.

Freilich ist ihm so wenig wie irgendeinem andern Staatsmanne ge¬
lungen, feste Normen über das Verhältniß der katholischen Kirche zum Staate
aufzustellen; ja wir finden in seinen Briefen kaum Andeutungen, die uns einen
Schluß aus seine positiven Ansichten über dies Verhältniß gestatten. Zwischen
der aristokratisch organisitten Kirche mit ihrem sichtbaren, lebendigen, außerhalb
des Bereiches jedes weltlichen Rechtes gelegenen monarchischen Mittelpunkte und
den einzelnen katholischen Staaten besteht einmal ein principieller Gegensatz,
den bis jetzt noch kein Concordat, keine Legislation gelöst hat. Außerdem han¬
delt es sich hierbei zum Theil um Fragen, die weit über die Kirchenverfassung
hinaus auf daS Gebiet des Dogma führen, indem die Lehre der Kirche in ge¬
wissen Punkten, z. B. hinsichtlich der Gewissensfreiheit, mit den Forderungen
des civilisirten Staates in directem Widerspruche steht. Man kann überzeugt
sein, daß der Syllabus Tocqueville mit tiefster Indignation erfüllt haben würde:
und doch würde er es sich nicht haben verhehlen können, daß derselbe, einige
überflüssige Zuthaten abgerechnet, ein prägnanter Ausdruck dessen ist, was die
Kirche seit Jahrhunderten gelehrt hat, und woran sie unbedingt festhalten muß,
Weil ihr Lehr- und Bcrfassungsgebäude keine Lücke duldet. Es ergeht Tocqueville
wie den neuerdings in Frankreich aufgetretenen liberalen Vertheidigern der
päpstlichen Gewalt: sie fordern und hoffen vom Papstthum Reform und Ent"
Wicklung, d. h. Bewegung, bedenken aber nicht, daß die Unbcweglichke.it der Kitt
ist. der den stolzen Bau der Hierarchie zusammenhält, und daß die Kirche, wenn
sie mit der äußersten Schroffheit an den für den Glauben scheinbar unwesent¬
lichsten Lehren festhält, für die Existenz ihres Gesammtorganismus kämpft. Die
Kirche mag in einem bestimmten Falle sich geschmeidig unter der Gewalt einer
unbequemen Thatsache beugen; sie mag unter Umständen die politische Freiheit
begünstigen; die Forderung Tocquevilles aber, die politischen Dinge vom poli¬
tischen Standpunkt aus zu betrachten, diese Forderung wird sie niemals erfüllen,
j" selbst die Forderung, die Politik als ein neutrales, außer dem Bereich ihrer
Wirksamkeit liegendes Gebiet anzusehen, wird sie ihren Grundsätzen gemäß mit
voller Entschiedenheit abweisen müssen.

ES kann auffallend erscheinen, daß ein Mann von so überlegener politischer
Einsicht wie Tocqueville, der ein klareres Bewußtsein als die meisten seiner


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kehren häufig wieder, besonders in den Briefen an Corcelle. Bald tadelt er
die Herrschsucht der Geistlichen, bald ihr Anschmiegen an die Staatsgewalt (in
der ersten Periode des Kaiserthums) und ihre Gleichgiltigkeit oder gar Feind¬
schaft gegen die politische Freiheit. Er mißbilligt, daß das Urtheil der
Priester über politische Angelegenheiten ausschließlich von Ideen und Gefühlen
abhängig sei, die einem anderen Gebiete als dem politischen angehören. In
dieser Beziehung habe der Klerus deS aneierr rögimö, der keineswegs für die
Freiheit unempfänglich gewesen sei, viel höher gestanden.

Freilich ist ihm so wenig wie irgendeinem andern Staatsmanne ge¬
lungen, feste Normen über das Verhältniß der katholischen Kirche zum Staate
aufzustellen; ja wir finden in seinen Briefen kaum Andeutungen, die uns einen
Schluß aus seine positiven Ansichten über dies Verhältniß gestatten. Zwischen
der aristokratisch organisitten Kirche mit ihrem sichtbaren, lebendigen, außerhalb
des Bereiches jedes weltlichen Rechtes gelegenen monarchischen Mittelpunkte und
den einzelnen katholischen Staaten besteht einmal ein principieller Gegensatz,
den bis jetzt noch kein Concordat, keine Legislation gelöst hat. Außerdem han¬
delt es sich hierbei zum Theil um Fragen, die weit über die Kirchenverfassung
hinaus auf daS Gebiet des Dogma führen, indem die Lehre der Kirche in ge¬
wissen Punkten, z. B. hinsichtlich der Gewissensfreiheit, mit den Forderungen
des civilisirten Staates in directem Widerspruche steht. Man kann überzeugt
sein, daß der Syllabus Tocqueville mit tiefster Indignation erfüllt haben würde:
und doch würde er es sich nicht haben verhehlen können, daß derselbe, einige
überflüssige Zuthaten abgerechnet, ein prägnanter Ausdruck dessen ist, was die
Kirche seit Jahrhunderten gelehrt hat, und woran sie unbedingt festhalten muß,
Weil ihr Lehr- und Bcrfassungsgebäude keine Lücke duldet. Es ergeht Tocqueville
wie den neuerdings in Frankreich aufgetretenen liberalen Vertheidigern der
päpstlichen Gewalt: sie fordern und hoffen vom Papstthum Reform und Ent»
Wicklung, d. h. Bewegung, bedenken aber nicht, daß die Unbcweglichke.it der Kitt
ist. der den stolzen Bau der Hierarchie zusammenhält, und daß die Kirche, wenn
sie mit der äußersten Schroffheit an den für den Glauben scheinbar unwesent¬
lichsten Lehren festhält, für die Existenz ihres Gesammtorganismus kämpft. Die
Kirche mag in einem bestimmten Falle sich geschmeidig unter der Gewalt einer
unbequemen Thatsache beugen; sie mag unter Umständen die politische Freiheit
begünstigen; die Forderung Tocquevilles aber, die politischen Dinge vom poli¬
tischen Standpunkt aus zu betrachten, diese Forderung wird sie niemals erfüllen,
j» selbst die Forderung, die Politik als ein neutrales, außer dem Bereich ihrer
Wirksamkeit liegendes Gebiet anzusehen, wird sie ihren Grundsätzen gemäß mit
voller Entschiedenheit abweisen müssen.

ES kann auffallend erscheinen, daß ein Mann von so überlegener politischer
Einsicht wie Tocqueville, der ein klareres Bewußtsein als die meisten seiner


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[0395] kehren häufig wieder, besonders in den Briefen an Corcelle. Bald tadelt er die Herrschsucht der Geistlichen, bald ihr Anschmiegen an die Staatsgewalt (in der ersten Periode des Kaiserthums) und ihre Gleichgiltigkeit oder gar Feind¬ schaft gegen die politische Freiheit. Er mißbilligt, daß das Urtheil der Priester über politische Angelegenheiten ausschließlich von Ideen und Gefühlen abhängig sei, die einem anderen Gebiete als dem politischen angehören. In dieser Beziehung habe der Klerus deS aneierr rögimö, der keineswegs für die Freiheit unempfänglich gewesen sei, viel höher gestanden. Freilich ist ihm so wenig wie irgendeinem andern Staatsmanne ge¬ lungen, feste Normen über das Verhältniß der katholischen Kirche zum Staate aufzustellen; ja wir finden in seinen Briefen kaum Andeutungen, die uns einen Schluß aus seine positiven Ansichten über dies Verhältniß gestatten. Zwischen der aristokratisch organisitten Kirche mit ihrem sichtbaren, lebendigen, außerhalb des Bereiches jedes weltlichen Rechtes gelegenen monarchischen Mittelpunkte und den einzelnen katholischen Staaten besteht einmal ein principieller Gegensatz, den bis jetzt noch kein Concordat, keine Legislation gelöst hat. Außerdem han¬ delt es sich hierbei zum Theil um Fragen, die weit über die Kirchenverfassung hinaus auf daS Gebiet des Dogma führen, indem die Lehre der Kirche in ge¬ wissen Punkten, z. B. hinsichtlich der Gewissensfreiheit, mit den Forderungen des civilisirten Staates in directem Widerspruche steht. Man kann überzeugt sein, daß der Syllabus Tocqueville mit tiefster Indignation erfüllt haben würde: und doch würde er es sich nicht haben verhehlen können, daß derselbe, einige überflüssige Zuthaten abgerechnet, ein prägnanter Ausdruck dessen ist, was die Kirche seit Jahrhunderten gelehrt hat, und woran sie unbedingt festhalten muß, Weil ihr Lehr- und Bcrfassungsgebäude keine Lücke duldet. Es ergeht Tocqueville wie den neuerdings in Frankreich aufgetretenen liberalen Vertheidigern der päpstlichen Gewalt: sie fordern und hoffen vom Papstthum Reform und Ent» Wicklung, d. h. Bewegung, bedenken aber nicht, daß die Unbcweglichke.it der Kitt ist. der den stolzen Bau der Hierarchie zusammenhält, und daß die Kirche, wenn sie mit der äußersten Schroffheit an den für den Glauben scheinbar unwesent¬ lichsten Lehren festhält, für die Existenz ihres Gesammtorganismus kämpft. Die Kirche mag in einem bestimmten Falle sich geschmeidig unter der Gewalt einer unbequemen Thatsache beugen; sie mag unter Umständen die politische Freiheit begünstigen; die Forderung Tocquevilles aber, die politischen Dinge vom poli¬ tischen Standpunkt aus zu betrachten, diese Forderung wird sie niemals erfüllen, j» selbst die Forderung, die Politik als ein neutrales, außer dem Bereich ihrer Wirksamkeit liegendes Gebiet anzusehen, wird sie ihren Grundsätzen gemäß mit voller Entschiedenheit abweisen müssen. ES kann auffallend erscheinen, daß ein Mann von so überlegener politischer Einsicht wie Tocqueville, der ein klareres Bewußtsein als die meisten seiner 62*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/395>, abgerufen am 15.01.2025.