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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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voller Strenge aufrecht zu erhalten, so mußte sie die Grundlagen ihrer Macht
untergraben lassen, sie mußte, während sie in der vollen Handhabung der Ge¬
walt durch Rücksichten auf Gegner und Freunde beschränkt war, doch die volle
Verantwortung für jeden Fehler und jeden Mißgriff übernehmen. Das Princip
des Imperialismus ist das entgegengesetzte: die Organe der Verwaltung bis
aufs Aeußerste anzuspannen, die Verantwortung für alles zu übernehmen, aber
jeden Versuch, den Träger der Gewalt zur Verantwortung zu ziehen, zu unter¬
drücken. Daher die charakteristische Furcht des antiken wie des modernen Cäsa¬
rismus vor jeder freien Regung und Kritik der Publicistik. Aber sobald die
Spannung ihren höchsten Grad erreicht hat, der Druck nicht mehr gesteigert
werden kann, sobald die Maschine so weit ihre Dienste versagt, daß das Hervor¬
treten der öffentlichen Meinung nicht mehr unterdrückt werden kann, beginnt
für ihn die Krisis, die er nur in dem Fall Aussicht hat zu überstehen, wenn
es ihm gelingen wird, seine administrative Allmacht durch rechtzeitige Begrün¬
dung communaler Verwaltung zu beschränken; eine Nachgiebigkeit im Einzelnen
dagegen würde nur Schwäche verrathen und die Gegner ermuthigen, ohne sie
zu versöhnen.

Die von Gustav von Beaumont, dem Freunde Tocquevilles, herausgegebene
Sammlung von Fragmenten und Briefen ergänzt in trefflicher Weise das Bild
des Verfassers, wie es uns in den beiden großen Werken entgegentritt; sie
lassen uns einen Blick in die Werkstätte des bedeutenden Geistes thun, dessen
gereifte Erzeugnisse wir in jenen beiden Büchern bewundern. Eine sehr will¬
kommene Zugabe ist die von Beaumont dem Werke vorangeschickte biographische
Charakterschilderung. Die Fragmente sind theils den Aufzeichnungen des Ver¬
fassers über seine Reisen entnommen, theils die in unvollendeten Zustande hin¬
terlassene Fortsetzung des ancien reglos. Unter den Aufsätzen der ersten Classe
heben wir die "Fünfzehn Tage in der Wüste" hervor, eine überaus anmuthige
Schilderung eines in Gemeinschaft mit Beaumont unternommenen Ausflugs in
einen nordamerikanischen Urwald: eine Schilderung, die uns einen hohen Be¬
griff von der ungewöhnlichen Darstellungsgabe Tocquevilles auf einem Gebiete
giebt, auf dem wir ihm bisher noch nicht begegnet sind. Die beiden Fragmente
aus der Fortsetzung des "aneiM rögime" (1) Oomment 1a repudlilMö 6kalt>
M-ceo a trouvsr un irmiti-e. 2) Lorriiriönt is, Nation, <zu esssant ä' vero rexu-
blieaiue, plait restvv rüvolutioniMi'c; ? -- tragen alle Vorzüge der Tvcquc-
villeschen Darstellung an sich. Eine sprudelnde Fülle politischer Ideen reiht
sich ohne Unterbrechung an einander; jeder Gedanke ist bedeutungsvoll, dabei
in der Form so klar, präcis und bestimmt, daß die Wahrheit und das Gewicht
desselben sofort und oft überraschend in die Augen springt. Von unbestimmten,
verschwimmenden Wendungen keine Spur: wie überhaupt sich wenige Schrift¬
steller finden dürften, die mit gleicher Tiefe des Gedankens die gleiche Durch-


voller Strenge aufrecht zu erhalten, so mußte sie die Grundlagen ihrer Macht
untergraben lassen, sie mußte, während sie in der vollen Handhabung der Ge¬
walt durch Rücksichten auf Gegner und Freunde beschränkt war, doch die volle
Verantwortung für jeden Fehler und jeden Mißgriff übernehmen. Das Princip
des Imperialismus ist das entgegengesetzte: die Organe der Verwaltung bis
aufs Aeußerste anzuspannen, die Verantwortung für alles zu übernehmen, aber
jeden Versuch, den Träger der Gewalt zur Verantwortung zu ziehen, zu unter¬
drücken. Daher die charakteristische Furcht des antiken wie des modernen Cäsa¬
rismus vor jeder freien Regung und Kritik der Publicistik. Aber sobald die
Spannung ihren höchsten Grad erreicht hat, der Druck nicht mehr gesteigert
werden kann, sobald die Maschine so weit ihre Dienste versagt, daß das Hervor¬
treten der öffentlichen Meinung nicht mehr unterdrückt werden kann, beginnt
für ihn die Krisis, die er nur in dem Fall Aussicht hat zu überstehen, wenn
es ihm gelingen wird, seine administrative Allmacht durch rechtzeitige Begrün¬
dung communaler Verwaltung zu beschränken; eine Nachgiebigkeit im Einzelnen
dagegen würde nur Schwäche verrathen und die Gegner ermuthigen, ohne sie
zu versöhnen.

Die von Gustav von Beaumont, dem Freunde Tocquevilles, herausgegebene
Sammlung von Fragmenten und Briefen ergänzt in trefflicher Weise das Bild
des Verfassers, wie es uns in den beiden großen Werken entgegentritt; sie
lassen uns einen Blick in die Werkstätte des bedeutenden Geistes thun, dessen
gereifte Erzeugnisse wir in jenen beiden Büchern bewundern. Eine sehr will¬
kommene Zugabe ist die von Beaumont dem Werke vorangeschickte biographische
Charakterschilderung. Die Fragmente sind theils den Aufzeichnungen des Ver¬
fassers über seine Reisen entnommen, theils die in unvollendeten Zustande hin¬
terlassene Fortsetzung des ancien reglos. Unter den Aufsätzen der ersten Classe
heben wir die „Fünfzehn Tage in der Wüste" hervor, eine überaus anmuthige
Schilderung eines in Gemeinschaft mit Beaumont unternommenen Ausflugs in
einen nordamerikanischen Urwald: eine Schilderung, die uns einen hohen Be¬
griff von der ungewöhnlichen Darstellungsgabe Tocquevilles auf einem Gebiete
giebt, auf dem wir ihm bisher noch nicht begegnet sind. Die beiden Fragmente
aus der Fortsetzung des „aneiM rögime" (1) Oomment 1a repudlilMö 6kalt>
M-ceo a trouvsr un irmiti-e. 2) Lorriiriönt is, Nation, <zu esssant ä' vero rexu-
blieaiue, plait restvv rüvolutioniMi'c; ? — tragen alle Vorzüge der Tvcquc-
villeschen Darstellung an sich. Eine sprudelnde Fülle politischer Ideen reiht
sich ohne Unterbrechung an einander; jeder Gedanke ist bedeutungsvoll, dabei
in der Form so klar, präcis und bestimmt, daß die Wahrheit und das Gewicht
desselben sofort und oft überraschend in die Augen springt. Von unbestimmten,
verschwimmenden Wendungen keine Spur: wie überhaupt sich wenige Schrift¬
steller finden dürften, die mit gleicher Tiefe des Gedankens die gleiche Durch-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/388>, abgerufen am 15.01.2025.