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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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von dem Gericht in Cap. 7, bei dem man die Personificirung des israelitischen
Volks als den Messias (Christus) selbst auffaßte.

Schon die dem sterbenden Matthathias 1 Mcikk. 2, S9 f. in den Mund ge¬
legte Rede spricht von der Geschichte Daniel's und seiner drei Gefährten ganz
wie von den sonstigen Erzählungen der heiligen Schrift. So verkehrt es nun
ist, wenn man diese Stelle als ein Zeugniß für die Echtheit des Buches hat
ansehen wollen, da dies nur in dem Falle anginge, daß wir jene Rede als mit
stenographischer Treue aufbewahrt ansehen könnten, so folgt doch daraus, daß
der Verfasser des ersten Makkabäcrbuchs (im Anfang des letzten vorchristlichen
Jahrhunderts), der diese Rede componirte, das Lues Daniel als ein heiliges
ansah. Und während wir von mehren Büchern des Alten Testaments wissen, daß
ihr kanonisches Ansehn lange bestritten worden ist, fehlt uns eine derartige Nach¬
richt über dies jüngste Buch des hebräischen Kanons ganz und gar. Die Ver>
muthung, daß die Sadduccier unser Buch wegen der darin ausgesprochenen
Lehre von der Auferstehung der Todten verworfen hätten, läßt sich durch kein
Zeugniß belegen; mit ein bischen Auslegekunst konnten sie auch wohl diesen
Anstoß beseitigen.

Ein äußerer Fingerzeig für das spätere Alter des Buches liegt nur noch
in seiner Stellung in der hebräischen Bibel. Seiner Art nach hätte es in die
zweite Classe des Kanons gehört, welche unter dem Namen "Propheten" nicht
blos die eigentlich prophetischen, sondern auch die älteren geschichtlichen Bücher
von Josua bis zu den Königen enthält. Diese Reihe war aber zur Zeit der
Abfassung des Buchs schon abgeschlossen, und daher konnte es nur in die dritte
kommen, welche "die (heiligen) Schriften" (Hagiographa) genannt wird und aus
verschiedenartigen Büchern minderen Ansehens oder späteren Alters besteht.
Vergeblich haben orthodoxe Schriftsteller durch Sophismen nachweisen wollen,
daß das Buch Daniel, obwohl es echt sei, nicht unter die prophetischen Bücher
habe gestellt werden dürfen, während doch selbst das erzählende Buch Jona
mitten unter diesen steht.

Erst in der griechischen Bibel ist Daniel zu den prophetischen Büchern
gestellt, und daher ist es in allen abendländischen Kirchen Sitte geworden,
Daniel zu den großen Propheten zu rechnen.

Der griechische Uebersetzer scheint freilich das Buch Daniel noch nicht mit
ängstlicher Scheu betrachtet zu haben. Er behandelt sein Buch noch Willkür-
licher, wie der des Buches Esther das seinige. Kein Buch der griechischen Bibel
'se so flüchtig und schlecht übersehe, wie Daniel. Je weiter nach hinten, desto
schlechter wird die Uebersetzung, welche oft baren Unsinn enthält. Bald läßt
sie nothwendige Dinge aus, bald hat sie kleinere oder größere, zum Theil störende
Zusätze. Dazu kam noch das Geschick, daß gerade diese Uebersetzung durch
Hinzusetzung anderer, zum Theil noch freierer Uebersetzungsfragmente und son-


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von dem Gericht in Cap. 7, bei dem man die Personificirung des israelitischen
Volks als den Messias (Christus) selbst auffaßte.

Schon die dem sterbenden Matthathias 1 Mcikk. 2, S9 f. in den Mund ge¬
legte Rede spricht von der Geschichte Daniel's und seiner drei Gefährten ganz
wie von den sonstigen Erzählungen der heiligen Schrift. So verkehrt es nun
ist, wenn man diese Stelle als ein Zeugniß für die Echtheit des Buches hat
ansehen wollen, da dies nur in dem Falle anginge, daß wir jene Rede als mit
stenographischer Treue aufbewahrt ansehen könnten, so folgt doch daraus, daß
der Verfasser des ersten Makkabäcrbuchs (im Anfang des letzten vorchristlichen
Jahrhunderts), der diese Rede componirte, das Lues Daniel als ein heiliges
ansah. Und während wir von mehren Büchern des Alten Testaments wissen, daß
ihr kanonisches Ansehn lange bestritten worden ist, fehlt uns eine derartige Nach¬
richt über dies jüngste Buch des hebräischen Kanons ganz und gar. Die Ver>
muthung, daß die Sadduccier unser Buch wegen der darin ausgesprochenen
Lehre von der Auferstehung der Todten verworfen hätten, läßt sich durch kein
Zeugniß belegen; mit ein bischen Auslegekunst konnten sie auch wohl diesen
Anstoß beseitigen.

Ein äußerer Fingerzeig für das spätere Alter des Buches liegt nur noch
in seiner Stellung in der hebräischen Bibel. Seiner Art nach hätte es in die
zweite Classe des Kanons gehört, welche unter dem Namen „Propheten" nicht
blos die eigentlich prophetischen, sondern auch die älteren geschichtlichen Bücher
von Josua bis zu den Königen enthält. Diese Reihe war aber zur Zeit der
Abfassung des Buchs schon abgeschlossen, und daher konnte es nur in die dritte
kommen, welche „die (heiligen) Schriften" (Hagiographa) genannt wird und aus
verschiedenartigen Büchern minderen Ansehens oder späteren Alters besteht.
Vergeblich haben orthodoxe Schriftsteller durch Sophismen nachweisen wollen,
daß das Buch Daniel, obwohl es echt sei, nicht unter die prophetischen Bücher
habe gestellt werden dürfen, während doch selbst das erzählende Buch Jona
mitten unter diesen steht.

Erst in der griechischen Bibel ist Daniel zu den prophetischen Büchern
gestellt, und daher ist es in allen abendländischen Kirchen Sitte geworden,
Daniel zu den großen Propheten zu rechnen.

Der griechische Uebersetzer scheint freilich das Buch Daniel noch nicht mit
ängstlicher Scheu betrachtet zu haben. Er behandelt sein Buch noch Willkür-
licher, wie der des Buches Esther das seinige. Kein Buch der griechischen Bibel
'se so flüchtig und schlecht übersehe, wie Daniel. Je weiter nach hinten, desto
schlechter wird die Uebersetzung, welche oft baren Unsinn enthält. Bald läßt
sie nothwendige Dinge aus, bald hat sie kleinere oder größere, zum Theil störende
Zusätze. Dazu kam noch das Geschick, daß gerade diese Uebersetzung durch
Hinzusetzung anderer, zum Theil noch freierer Uebersetzungsfragmente und son-


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[0361] von dem Gericht in Cap. 7, bei dem man die Personificirung des israelitischen Volks als den Messias (Christus) selbst auffaßte. Schon die dem sterbenden Matthathias 1 Mcikk. 2, S9 f. in den Mund ge¬ legte Rede spricht von der Geschichte Daniel's und seiner drei Gefährten ganz wie von den sonstigen Erzählungen der heiligen Schrift. So verkehrt es nun ist, wenn man diese Stelle als ein Zeugniß für die Echtheit des Buches hat ansehen wollen, da dies nur in dem Falle anginge, daß wir jene Rede als mit stenographischer Treue aufbewahrt ansehen könnten, so folgt doch daraus, daß der Verfasser des ersten Makkabäcrbuchs (im Anfang des letzten vorchristlichen Jahrhunderts), der diese Rede componirte, das Lues Daniel als ein heiliges ansah. Und während wir von mehren Büchern des Alten Testaments wissen, daß ihr kanonisches Ansehn lange bestritten worden ist, fehlt uns eine derartige Nach¬ richt über dies jüngste Buch des hebräischen Kanons ganz und gar. Die Ver> muthung, daß die Sadduccier unser Buch wegen der darin ausgesprochenen Lehre von der Auferstehung der Todten verworfen hätten, läßt sich durch kein Zeugniß belegen; mit ein bischen Auslegekunst konnten sie auch wohl diesen Anstoß beseitigen. Ein äußerer Fingerzeig für das spätere Alter des Buches liegt nur noch in seiner Stellung in der hebräischen Bibel. Seiner Art nach hätte es in die zweite Classe des Kanons gehört, welche unter dem Namen „Propheten" nicht blos die eigentlich prophetischen, sondern auch die älteren geschichtlichen Bücher von Josua bis zu den Königen enthält. Diese Reihe war aber zur Zeit der Abfassung des Buchs schon abgeschlossen, und daher konnte es nur in die dritte kommen, welche „die (heiligen) Schriften" (Hagiographa) genannt wird und aus verschiedenartigen Büchern minderen Ansehens oder späteren Alters besteht. Vergeblich haben orthodoxe Schriftsteller durch Sophismen nachweisen wollen, daß das Buch Daniel, obwohl es echt sei, nicht unter die prophetischen Bücher habe gestellt werden dürfen, während doch selbst das erzählende Buch Jona mitten unter diesen steht. Erst in der griechischen Bibel ist Daniel zu den prophetischen Büchern gestellt, und daher ist es in allen abendländischen Kirchen Sitte geworden, Daniel zu den großen Propheten zu rechnen. Der griechische Uebersetzer scheint freilich das Buch Daniel noch nicht mit ängstlicher Scheu betrachtet zu haben. Er behandelt sein Buch noch Willkür- licher, wie der des Buches Esther das seinige. Kein Buch der griechischen Bibel 'se so flüchtig und schlecht übersehe, wie Daniel. Je weiter nach hinten, desto schlechter wird die Uebersetzung, welche oft baren Unsinn enthält. Bald läßt sie nothwendige Dinge aus, bald hat sie kleinere oder größere, zum Theil störende Zusätze. Dazu kam noch das Geschick, daß gerade diese Uebersetzung durch Hinzusetzung anderer, zum Theil noch freierer Uebersetzungsfragmente und son- 48*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/361>, abgerufen am 15.01.2025.