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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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wenn man die Fehler und Gebrechen des preußischen Staates gegen ihn, gegen
seinen Beruf, gegen die einfache Wahrheit verwerthet, daß in ihm trotz alledem
das politisch organisüte Deutschland -- soweit Deutschland sich eben politisch
zu organisiren vermocht hat -- vorhanden ist. Denn wie es dem philosophischen
Idealismus eigen ist, das im Sinne der Natur Erste an die zweite Stelle zu
rücken, das Ursprüngliche für das Abgeleitete, das Abgeleitete für das Ursprüng¬
liche zu erklären, so wird auch bei jenem Verfahren nichts weniger als das
übersehen, daß die Mängel des preußischen Staatswesens vor allen Dingen
Ursprungszeugnisse sind, daß keine Anklage gegen Preußen erhoben werden
kann, die nicht im verstärkten Maße auf Deutschland zurückfiele. Denn das ist
dem logischen und am Zusammenhang der Dinge festhaltenden Denken doch
unverlierbar, daß ein anders gestalteter Genius der deutschen Nation auf poli¬
tischem Gebiet ein anderes Preußen geliefert haben würde, so gut wie der ab¬
weichende französische Genius die straffe Concentratio" Frankreichs bewirkt und
der polnische den Zerfall Polens möglich gemacht hat. Und was folgt denn
überhaupt aus der Totalsumme aller Mängel Preußens, gegen die wir in
Norddeutschland doch wahrhaftig auch um so weniger blind sind, je mehr sie
uns unsere Aufgabe erschweren, wenn wir sie auch vielleicht weniger als es in
Süddeutschland geschieht, mit vorübergehenden Zuständen identificiren, was
folgt aus ihnen weiter als das, was den Grundgedanken der grobpreußischen
oder richtiger nationalen Partei ausmacht: Preußen von diesen Mängeln zu
befreien, es der Freiheit zu erobern.

Ich meinestheils halte es in der That für keinen Verlust, daß das Capitel
der moralischen Eroberungen einstweilen von der Tagesordnung abgesetzt ist.
Im Zusammenhang mit ihnen hatte sich der deutschen "Stämme" die eigen¬
thümliche Vorstellung bemächtigt, daß Preußen für seinen Beruf, an die deutsche
Spitze zu treten, noch besondere Prüfungen durchzumachen habe. Bestand
Preußen diese Prüfungen schlecht, so sonnte sich jeder Stamm in der Ueber¬
zeugung, daß nicht er, sondern offenbar nur Preußen die Schuld trage, daß
noch immer an kein Vorwärtskommen zu denken sei; bestand Preußen wie unter
der neuen Aera cum lauäe, so war das belobigende Zeugniß guter Führung,
welches zu weiteren Hoffnungen für die Zukunft berechtige, sowie das Anwachsen
des Nationalvereins um einige Dutzend Mitglieder in Württemberg oder Bayern
schon als ein bemerkenswerther, im Ganzen aber doch sehr schwindsüchtiger
Erfolg zu registriren. Wehe aber, wenn in Preußen ein Rückfall eintrat. Die
Entrüstung im übrigen Deutschland war dann um so stürmischer, als sich jeder
Einzelne, der sich von dem liberalen Preußen hatte moralisch erobern lassen,
nun wie schnöde betrogen und als ein Verräther an seinem engeren Vaterlande
erschien.

Dieser ganze, man kann wohl sagen kleinstaatliche Charakter unserer in


wenn man die Fehler und Gebrechen des preußischen Staates gegen ihn, gegen
seinen Beruf, gegen die einfache Wahrheit verwerthet, daß in ihm trotz alledem
das politisch organisüte Deutschland — soweit Deutschland sich eben politisch
zu organisiren vermocht hat — vorhanden ist. Denn wie es dem philosophischen
Idealismus eigen ist, das im Sinne der Natur Erste an die zweite Stelle zu
rücken, das Ursprüngliche für das Abgeleitete, das Abgeleitete für das Ursprüng¬
liche zu erklären, so wird auch bei jenem Verfahren nichts weniger als das
übersehen, daß die Mängel des preußischen Staatswesens vor allen Dingen
Ursprungszeugnisse sind, daß keine Anklage gegen Preußen erhoben werden
kann, die nicht im verstärkten Maße auf Deutschland zurückfiele. Denn das ist
dem logischen und am Zusammenhang der Dinge festhaltenden Denken doch
unverlierbar, daß ein anders gestalteter Genius der deutschen Nation auf poli¬
tischem Gebiet ein anderes Preußen geliefert haben würde, so gut wie der ab¬
weichende französische Genius die straffe Concentratio» Frankreichs bewirkt und
der polnische den Zerfall Polens möglich gemacht hat. Und was folgt denn
überhaupt aus der Totalsumme aller Mängel Preußens, gegen die wir in
Norddeutschland doch wahrhaftig auch um so weniger blind sind, je mehr sie
uns unsere Aufgabe erschweren, wenn wir sie auch vielleicht weniger als es in
Süddeutschland geschieht, mit vorübergehenden Zuständen identificiren, was
folgt aus ihnen weiter als das, was den Grundgedanken der grobpreußischen
oder richtiger nationalen Partei ausmacht: Preußen von diesen Mängeln zu
befreien, es der Freiheit zu erobern.

Ich meinestheils halte es in der That für keinen Verlust, daß das Capitel
der moralischen Eroberungen einstweilen von der Tagesordnung abgesetzt ist.
Im Zusammenhang mit ihnen hatte sich der deutschen „Stämme" die eigen¬
thümliche Vorstellung bemächtigt, daß Preußen für seinen Beruf, an die deutsche
Spitze zu treten, noch besondere Prüfungen durchzumachen habe. Bestand
Preußen diese Prüfungen schlecht, so sonnte sich jeder Stamm in der Ueber¬
zeugung, daß nicht er, sondern offenbar nur Preußen die Schuld trage, daß
noch immer an kein Vorwärtskommen zu denken sei; bestand Preußen wie unter
der neuen Aera cum lauäe, so war das belobigende Zeugniß guter Führung,
welches zu weiteren Hoffnungen für die Zukunft berechtige, sowie das Anwachsen
des Nationalvereins um einige Dutzend Mitglieder in Württemberg oder Bayern
schon als ein bemerkenswerther, im Ganzen aber doch sehr schwindsüchtiger
Erfolg zu registriren. Wehe aber, wenn in Preußen ein Rückfall eintrat. Die
Entrüstung im übrigen Deutschland war dann um so stürmischer, als sich jeder
Einzelne, der sich von dem liberalen Preußen hatte moralisch erobern lassen,
nun wie schnöde betrogen und als ein Verräther an seinem engeren Vaterlande
erschien.

Dieser ganze, man kann wohl sagen kleinstaatliche Charakter unserer in


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[0324] wenn man die Fehler und Gebrechen des preußischen Staates gegen ihn, gegen seinen Beruf, gegen die einfache Wahrheit verwerthet, daß in ihm trotz alledem das politisch organisüte Deutschland — soweit Deutschland sich eben politisch zu organisiren vermocht hat — vorhanden ist. Denn wie es dem philosophischen Idealismus eigen ist, das im Sinne der Natur Erste an die zweite Stelle zu rücken, das Ursprüngliche für das Abgeleitete, das Abgeleitete für das Ursprüng¬ liche zu erklären, so wird auch bei jenem Verfahren nichts weniger als das übersehen, daß die Mängel des preußischen Staatswesens vor allen Dingen Ursprungszeugnisse sind, daß keine Anklage gegen Preußen erhoben werden kann, die nicht im verstärkten Maße auf Deutschland zurückfiele. Denn das ist dem logischen und am Zusammenhang der Dinge festhaltenden Denken doch unverlierbar, daß ein anders gestalteter Genius der deutschen Nation auf poli¬ tischem Gebiet ein anderes Preußen geliefert haben würde, so gut wie der ab¬ weichende französische Genius die straffe Concentratio» Frankreichs bewirkt und der polnische den Zerfall Polens möglich gemacht hat. Und was folgt denn überhaupt aus der Totalsumme aller Mängel Preußens, gegen die wir in Norddeutschland doch wahrhaftig auch um so weniger blind sind, je mehr sie uns unsere Aufgabe erschweren, wenn wir sie auch vielleicht weniger als es in Süddeutschland geschieht, mit vorübergehenden Zuständen identificiren, was folgt aus ihnen weiter als das, was den Grundgedanken der grobpreußischen oder richtiger nationalen Partei ausmacht: Preußen von diesen Mängeln zu befreien, es der Freiheit zu erobern. Ich meinestheils halte es in der That für keinen Verlust, daß das Capitel der moralischen Eroberungen einstweilen von der Tagesordnung abgesetzt ist. Im Zusammenhang mit ihnen hatte sich der deutschen „Stämme" die eigen¬ thümliche Vorstellung bemächtigt, daß Preußen für seinen Beruf, an die deutsche Spitze zu treten, noch besondere Prüfungen durchzumachen habe. Bestand Preußen diese Prüfungen schlecht, so sonnte sich jeder Stamm in der Ueber¬ zeugung, daß nicht er, sondern offenbar nur Preußen die Schuld trage, daß noch immer an kein Vorwärtskommen zu denken sei; bestand Preußen wie unter der neuen Aera cum lauäe, so war das belobigende Zeugniß guter Führung, welches zu weiteren Hoffnungen für die Zukunft berechtige, sowie das Anwachsen des Nationalvereins um einige Dutzend Mitglieder in Württemberg oder Bayern schon als ein bemerkenswerther, im Ganzen aber doch sehr schwindsüchtiger Erfolg zu registriren. Wehe aber, wenn in Preußen ein Rückfall eintrat. Die Entrüstung im übrigen Deutschland war dann um so stürmischer, als sich jeder Einzelne, der sich von dem liberalen Preußen hatte moralisch erobern lassen, nun wie schnöde betrogen und als ein Verräther an seinem engeren Vaterlande erschien. Dieser ganze, man kann wohl sagen kleinstaatliche Charakter unserer in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/324>, abgerufen am 15.01.2025.