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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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darunter Einrichtungen und Zustände, die, mit den verwandten Dingen in den
übrigen Kantonen verglichen, wie Einrichtungen und Zustande einer anderen,
zweihundert Jahre jüngeren Welt erscheinen, Ueberlieferungen, um die man die,
welche sie Pflegen, beneiden kann, aber auch Anachronismen, die seltsam ab¬
stechen von dem Namen der freien Schweiz und dem Ruhme raschen Fortschritts
zu humanen Leben, welcher ihr von vielen in Bausch und Bogen gespen¬
det wird.

Die Culturströmung, die in jeden Winkel Europas hineinspült, wird in
wenigen Jahren solchen Alterthümern auch hier ein Ende gemacht haben, und
so ist es verdienstlich, zu sammeln, was im fünften und sechsten Decennium des
neunzehnten Jahrhunderts hier noch lebt und noch möglich ist.

Das Jnteressanteste, was unser Sammler entdeckt hat, ist unstreitig seine
Schilderung der socialen und politischen Eigenthümlichkeiten des Cantons Uri,
aus denen wir im Folgenden das Wichtigste mittheilen.

Wer in Uri einfährt, überzeugt sich sogleich, daß er in das Land der
Ordnung gekommen ist; denn alles rasche Reiten und Fahren durch die Flecken
und Dörfer ist durch Warnungstafeln bei Strafe verboten, ganz ebenso wie in
einem deutschen Kleinstaat. Für die Ordnung spricht ferner, daß das Ländchen
reichlich mit Beamten versehen ist. was namentlich von der Verwaltungssphäre
gilt. Dies hat dann ein starkes Titclwesen im Gefolge, worin die Schweiz
überhaupt der großen Schwesterrepublik in Amerika gleicht, nur daß unter den
Aankees die militärischen Titel (schon vor dem letzten Kriege beiläufig) über¬
wiegen. Angenehm berührt dabei, daß in Uri nicht wie sonst vielfach in der
Schweiz jeder Vorsteher einer Behörde, sei sie auch noch so wenig bedeutend,
Herr Präsident titulirt wird, sondern mit guter altdeutscher Bezeichnung Land¬
amman, Schultheß u. s. w. heißt. Wunderlich dagegen klingt es, wenn hier
die Aerzte "Herr Excellenz" genannt werden, was vermuthlich aus Italien
stammt.

Fällt die Zahl von Behörden und Beamten auf, so giebt es doch kein
Schreibstubenrcgiment im Canton. Davor schützt schon die Bestimmung der
Verfassung, nach welcher niemandem ein Amt auf Lebenszeit übertragen werden
kann. Die Aemter geben zwar Ehre, sind aber der Mehrzahl nach Lasten, die
jeder nach dem Grundsatz zu übernehmen hat, daß jeder Bürger wie zur Ver¬
theidigung auch zur Verwaltung des Vaterlandes verpflichtet ist, sofern er dazu
Befähigung hat. Gegenüber der Aemterjagd in manchen andern Ländern nimmt
es sich daher eigen aus, daß Uri ein Gesetz (aus dem Jahre 1851) über den
Amtszwang hat. Nach demselben ist jeder Wahlfähige genöthigt, jedes Amt,
welches ihm durch Volkswahl oder von dem Landrathe oder den Bezirksräthen
übertragen wird, anzunehmen; erst das zurückgelegte fünfundsechzigste Lebens¬
jahr befreit von diesem Zwange. Wer sich einem Amte, daS er übernehmen


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darunter Einrichtungen und Zustände, die, mit den verwandten Dingen in den
übrigen Kantonen verglichen, wie Einrichtungen und Zustande einer anderen,
zweihundert Jahre jüngeren Welt erscheinen, Ueberlieferungen, um die man die,
welche sie Pflegen, beneiden kann, aber auch Anachronismen, die seltsam ab¬
stechen von dem Namen der freien Schweiz und dem Ruhme raschen Fortschritts
zu humanen Leben, welcher ihr von vielen in Bausch und Bogen gespen¬
det wird.

Die Culturströmung, die in jeden Winkel Europas hineinspült, wird in
wenigen Jahren solchen Alterthümern auch hier ein Ende gemacht haben, und
so ist es verdienstlich, zu sammeln, was im fünften und sechsten Decennium des
neunzehnten Jahrhunderts hier noch lebt und noch möglich ist.

Das Jnteressanteste, was unser Sammler entdeckt hat, ist unstreitig seine
Schilderung der socialen und politischen Eigenthümlichkeiten des Cantons Uri,
aus denen wir im Folgenden das Wichtigste mittheilen.

Wer in Uri einfährt, überzeugt sich sogleich, daß er in das Land der
Ordnung gekommen ist; denn alles rasche Reiten und Fahren durch die Flecken
und Dörfer ist durch Warnungstafeln bei Strafe verboten, ganz ebenso wie in
einem deutschen Kleinstaat. Für die Ordnung spricht ferner, daß das Ländchen
reichlich mit Beamten versehen ist. was namentlich von der Verwaltungssphäre
gilt. Dies hat dann ein starkes Titclwesen im Gefolge, worin die Schweiz
überhaupt der großen Schwesterrepublik in Amerika gleicht, nur daß unter den
Aankees die militärischen Titel (schon vor dem letzten Kriege beiläufig) über¬
wiegen. Angenehm berührt dabei, daß in Uri nicht wie sonst vielfach in der
Schweiz jeder Vorsteher einer Behörde, sei sie auch noch so wenig bedeutend,
Herr Präsident titulirt wird, sondern mit guter altdeutscher Bezeichnung Land¬
amman, Schultheß u. s. w. heißt. Wunderlich dagegen klingt es, wenn hier
die Aerzte „Herr Excellenz" genannt werden, was vermuthlich aus Italien
stammt.

Fällt die Zahl von Behörden und Beamten auf, so giebt es doch kein
Schreibstubenrcgiment im Canton. Davor schützt schon die Bestimmung der
Verfassung, nach welcher niemandem ein Amt auf Lebenszeit übertragen werden
kann. Die Aemter geben zwar Ehre, sind aber der Mehrzahl nach Lasten, die
jeder nach dem Grundsatz zu übernehmen hat, daß jeder Bürger wie zur Ver¬
theidigung auch zur Verwaltung des Vaterlandes verpflichtet ist, sofern er dazu
Befähigung hat. Gegenüber der Aemterjagd in manchen andern Ländern nimmt
es sich daher eigen aus, daß Uri ein Gesetz (aus dem Jahre 1851) über den
Amtszwang hat. Nach demselben ist jeder Wahlfähige genöthigt, jedes Amt,
welches ihm durch Volkswahl oder von dem Landrathe oder den Bezirksräthen
übertragen wird, anzunehmen; erst das zurückgelegte fünfundsechzigste Lebens¬
jahr befreit von diesem Zwange. Wer sich einem Amte, daS er übernehmen


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[0276] , darunter Einrichtungen und Zustände, die, mit den verwandten Dingen in den übrigen Kantonen verglichen, wie Einrichtungen und Zustande einer anderen, zweihundert Jahre jüngeren Welt erscheinen, Ueberlieferungen, um die man die, welche sie Pflegen, beneiden kann, aber auch Anachronismen, die seltsam ab¬ stechen von dem Namen der freien Schweiz und dem Ruhme raschen Fortschritts zu humanen Leben, welcher ihr von vielen in Bausch und Bogen gespen¬ det wird. Die Culturströmung, die in jeden Winkel Europas hineinspült, wird in wenigen Jahren solchen Alterthümern auch hier ein Ende gemacht haben, und so ist es verdienstlich, zu sammeln, was im fünften und sechsten Decennium des neunzehnten Jahrhunderts hier noch lebt und noch möglich ist. Das Jnteressanteste, was unser Sammler entdeckt hat, ist unstreitig seine Schilderung der socialen und politischen Eigenthümlichkeiten des Cantons Uri, aus denen wir im Folgenden das Wichtigste mittheilen. Wer in Uri einfährt, überzeugt sich sogleich, daß er in das Land der Ordnung gekommen ist; denn alles rasche Reiten und Fahren durch die Flecken und Dörfer ist durch Warnungstafeln bei Strafe verboten, ganz ebenso wie in einem deutschen Kleinstaat. Für die Ordnung spricht ferner, daß das Ländchen reichlich mit Beamten versehen ist. was namentlich von der Verwaltungssphäre gilt. Dies hat dann ein starkes Titclwesen im Gefolge, worin die Schweiz überhaupt der großen Schwesterrepublik in Amerika gleicht, nur daß unter den Aankees die militärischen Titel (schon vor dem letzten Kriege beiläufig) über¬ wiegen. Angenehm berührt dabei, daß in Uri nicht wie sonst vielfach in der Schweiz jeder Vorsteher einer Behörde, sei sie auch noch so wenig bedeutend, Herr Präsident titulirt wird, sondern mit guter altdeutscher Bezeichnung Land¬ amman, Schultheß u. s. w. heißt. Wunderlich dagegen klingt es, wenn hier die Aerzte „Herr Excellenz" genannt werden, was vermuthlich aus Italien stammt. Fällt die Zahl von Behörden und Beamten auf, so giebt es doch kein Schreibstubenrcgiment im Canton. Davor schützt schon die Bestimmung der Verfassung, nach welcher niemandem ein Amt auf Lebenszeit übertragen werden kann. Die Aemter geben zwar Ehre, sind aber der Mehrzahl nach Lasten, die jeder nach dem Grundsatz zu übernehmen hat, daß jeder Bürger wie zur Ver¬ theidigung auch zur Verwaltung des Vaterlandes verpflichtet ist, sofern er dazu Befähigung hat. Gegenüber der Aemterjagd in manchen andern Ländern nimmt es sich daher eigen aus, daß Uri ein Gesetz (aus dem Jahre 1851) über den Amtszwang hat. Nach demselben ist jeder Wahlfähige genöthigt, jedes Amt, welches ihm durch Volkswahl oder von dem Landrathe oder den Bezirksräthen übertragen wird, anzunehmen; erst das zurückgelegte fünfundsechzigste Lebens¬ jahr befreit von diesem Zwange. Wer sich einem Amte, daS er übernehmen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/276>, abgerufen am 15.01.2025.