Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.vielfach imponirenden Natur hat der Meister willig jene "Beengtheit" verloren, vielfach imponirenden Natur hat der Meister willig jene „Beengtheit" verloren, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0237" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/283590"/> <p xml:id="ID_662" prev="#ID_661" next="#ID_663"> vielfach imponirenden Natur hat der Meister willig jene „Beengtheit" verloren,<lb/> von der ich oben sprach. Diese Köpfe zeigen bei aller schlichten Treue und<lb/> Naivetät doch durchweg eine wahrhaft großartige Auffassung der Persönlichkeit<lb/> und eine mächtige Behandlung jenes allereinfachsten ursprünglichsten Materials,<lb/> der Kohle, welcher nur die des auf Holz zeichnenden Stifts und keineswegs die<lb/> des Pinsels bei Dürer gleichkommt: breit, voll, scharf bestimmt, mit unfehl¬<lb/> barer Sicherheit umrissen, und zugleich mit dem geringsten Aufwand von<lb/> schlichtesten Tonlagen durchaus fleischig, rund modellirt. Die vollendete sou¬<lb/> veräne Meisterschaft des größten Künstlers, wie dort bei Holbein mit der ehr¬<lb/> lichsten Hingebung an die Sache und dem stillen tiefen Hineinversenken von<lb/> Seele und Auge in die Natur vor ihm gepaart. Auch darin gleichen diese<lb/> Blätter denen Holbeins, daß sie ganz den Eindruck des unmittelbar und wie<lb/> zufällig Aufgefaßten machen. Kein Stellen, kein Arrangiren zum Zweck des<lb/> Porträts; das Licht ist genommen, wie es gerade in das Zimmer einfiel, und<lb/> die stattlichen Herren sind gezeichnet, Wohl wie sie eben für sich am bequemsten<lb/> dasaßen. Um so echter, wahrer, überzeugender die Wirkung. Die Mehrzahl<lb/> ist im Profil genommen und im vollen Licht, und dann bedarf es für den<lb/> Meister doch keiner Schattenflächen und Massen; nur weniger leicht verwischter<lb/> oder gekreuzter Kohlenstriche an Schläfen, Wangenheim, Kiefern und Nase, um<lb/> das Bild in kraftvollem Relief, in runder Körperlichkeit aus der Fläche des<lb/> Papiers herauszuheben. Herrn Ulrich von Hütten finden wir auch unter diesen<lb/> Köpfen (diese Zeichnung ist unter Glas in die betreffende äußere Schrankthür<lb/> eingelassen): ein seines, geistiges Gesicht, das wenig gemein hat mit der derben,<lb/> fleischigen Sinnlichkeit so vieler andern der Standesgenossen und Fürsten seiner<lb/> Zeit, eine gestreckte, wenig und leise eingebogene Nase, um Wange, Kinn und<lb/> Lippen kurzer, nicht zu starker Vollbart, ein zugleich feurig und sinnend auf¬<lb/> blickendes Auge, über der Haube, welche das Haar umschließt, das breiträndnge<lb/> ausgezackte Baret der Landsknechte der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts tief<lb/> in die Stirn und schräg auf die rechte Seite gedrückt, so daß die Unteransicht<lb/> seines Randes den dunkleren Hintergrund fit das scharf absetzende lichte Profil<lb/> bildet. Besonders merkwürdig, ja wunderbar anziehend ist mir unter diesen<lb/> dürerschen Köpfen immer ein lebensgroßer weiblicher erschienen, der prachtvoll<lb/> eingerahmt an einer Wand des (geschilderten) grünen Saales hängt, wohin<lb/> ich den Leser noch besonders zu führen gedenke. Ebenfalls einfache Kohlen-<lb/> zeichnung, giebt er das Bild einer etwas vollen Frau von 35—40 Jahren in<lb/> der Dreiviertels-Ansicht. Als Kopfputz trägt sie die bekannte, das Gesicht eng<lb/> umschließende, das Haar völlig bergende, darüber ziemlich hoch ansteigende<lb/> Frauenhände jener Zeit. Ist sie blind auf dem einen Auge gewesen, oder ist<lb/> es nur eine Schwäche des Lides darüber? Genug, das Auge der rechten Seite,<lb/> der beschatteten, von welcher sie uns doppelt mehr als von der linken lichteren</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0237]
vielfach imponirenden Natur hat der Meister willig jene „Beengtheit" verloren,
von der ich oben sprach. Diese Köpfe zeigen bei aller schlichten Treue und
Naivetät doch durchweg eine wahrhaft großartige Auffassung der Persönlichkeit
und eine mächtige Behandlung jenes allereinfachsten ursprünglichsten Materials,
der Kohle, welcher nur die des auf Holz zeichnenden Stifts und keineswegs die
des Pinsels bei Dürer gleichkommt: breit, voll, scharf bestimmt, mit unfehl¬
barer Sicherheit umrissen, und zugleich mit dem geringsten Aufwand von
schlichtesten Tonlagen durchaus fleischig, rund modellirt. Die vollendete sou¬
veräne Meisterschaft des größten Künstlers, wie dort bei Holbein mit der ehr¬
lichsten Hingebung an die Sache und dem stillen tiefen Hineinversenken von
Seele und Auge in die Natur vor ihm gepaart. Auch darin gleichen diese
Blätter denen Holbeins, daß sie ganz den Eindruck des unmittelbar und wie
zufällig Aufgefaßten machen. Kein Stellen, kein Arrangiren zum Zweck des
Porträts; das Licht ist genommen, wie es gerade in das Zimmer einfiel, und
die stattlichen Herren sind gezeichnet, Wohl wie sie eben für sich am bequemsten
dasaßen. Um so echter, wahrer, überzeugender die Wirkung. Die Mehrzahl
ist im Profil genommen und im vollen Licht, und dann bedarf es für den
Meister doch keiner Schattenflächen und Massen; nur weniger leicht verwischter
oder gekreuzter Kohlenstriche an Schläfen, Wangenheim, Kiefern und Nase, um
das Bild in kraftvollem Relief, in runder Körperlichkeit aus der Fläche des
Papiers herauszuheben. Herrn Ulrich von Hütten finden wir auch unter diesen
Köpfen (diese Zeichnung ist unter Glas in die betreffende äußere Schrankthür
eingelassen): ein seines, geistiges Gesicht, das wenig gemein hat mit der derben,
fleischigen Sinnlichkeit so vieler andern der Standesgenossen und Fürsten seiner
Zeit, eine gestreckte, wenig und leise eingebogene Nase, um Wange, Kinn und
Lippen kurzer, nicht zu starker Vollbart, ein zugleich feurig und sinnend auf¬
blickendes Auge, über der Haube, welche das Haar umschließt, das breiträndnge
ausgezackte Baret der Landsknechte der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts tief
in die Stirn und schräg auf die rechte Seite gedrückt, so daß die Unteransicht
seines Randes den dunkleren Hintergrund fit das scharf absetzende lichte Profil
bildet. Besonders merkwürdig, ja wunderbar anziehend ist mir unter diesen
dürerschen Köpfen immer ein lebensgroßer weiblicher erschienen, der prachtvoll
eingerahmt an einer Wand des (geschilderten) grünen Saales hängt, wohin
ich den Leser noch besonders zu führen gedenke. Ebenfalls einfache Kohlen-
zeichnung, giebt er das Bild einer etwas vollen Frau von 35—40 Jahren in
der Dreiviertels-Ansicht. Als Kopfputz trägt sie die bekannte, das Gesicht eng
umschließende, das Haar völlig bergende, darüber ziemlich hoch ansteigende
Frauenhände jener Zeit. Ist sie blind auf dem einen Auge gewesen, oder ist
es nur eine Schwäche des Lides darüber? Genug, das Auge der rechten Seite,
der beschatteten, von welcher sie uns doppelt mehr als von der linken lichteren
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