Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.nehmer an dem Proceß einer innern Befreiung. Der Misanthrop Möliöres Und in der That hat ein großer und sichrer Fortschritt auf diesem Wege nehmer an dem Proceß einer innern Befreiung. Der Misanthrop Möliöres Und in der That hat ein großer und sichrer Fortschritt auf diesem Wege <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0146" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/283499"/> <p xml:id="ID_433" prev="#ID_432"> nehmer an dem Proceß einer innern Befreiung. Der Misanthrop Möliöres<lb/> dagegen., auch ein edler Mann, der wärmsten Theilnahme würdig, wird vom<lb/> Dichter nicht dargestellt, wie er von seinem Menschenhaß frei wird, er bleibt<lb/> trotz der lebhaften Bewegung, welche ihm das Stück in die Seele wirft, vom<lb/> Anfang bis zum Ende unverändert, ja sein Menschenhaß erhält durch die Ereig¬<lb/> nisse fast Recht, wir sind am Ende des Stückes dem Hauptcharakter gegenüber<lb/> soweit wie im Anfange. Und das Stück ist nach unsern Vorstellungen ein<lb/> Trauerspiel, nur daß in den Situationen vorzugsweise die komische Seite her¬<lb/> ausgekehrt wird. Das Interesse Molieres war nur. zwei scharf charakterisirte<lb/> Rollen, den ernsten Menschenfeind und die kokette Dame gegenüberzustellen, den<lb/> Gegensatz und die Reibungen für seine meisterhafte Scenenführung auszubeu¬<lb/> ten. Seine Dichterkraft in der Darstellung der beiden contrastirenden Gemüths¬<lb/> anlagen, welche hart und grell wie Mineralfarben nebeneinanderstehen, ist un¬<lb/> übertrefflich, die Details der höchsten Bewunderung werth, und mit der Bühnen'<lb/> kraft seiner Erfindung kann sich die unsers Lessing nicht vergleichen. Dennoch<lb/> ist in Lessing eine höhere und vollkommnere Empfindung des dramatischen Le¬<lb/> bens. Das Menschengeschlecht war seitdem ein Jahrhundert älter, klarer,<lb/> hoffnungsreicher geworden. Aber über Lessing ist man bei uns trotz der massen¬<lb/> haften Lustspielliteratur doch eben nicht hinausgekommen, es sind alles nur An¬<lb/> läufe geblieben/</p><lb/> <p xml:id="ID_434" next="#ID_435"> Und in der That hat ein großer und sichrer Fortschritt auf diesem Wege<lb/> wieder mit einer Schwierigkeit zu kämpfen, welche Molisre in den Stücken<lb/> seiner letzten Periode bereits überwunden hatte. Diese Schwierigkeit liegt in<lb/> der Bedeutung der Handlung oder Intrigue für das Stück. Die Charakter¬<lb/> zeichnung in der Weise Moliöres macht in den Hauptpersonen eine Wun¬<lb/> derlichkeit, Lächerlichkeit. Verkehrtheit zum Mittelpunkt des Interesses, sie wendet<lb/> die höchste Dichterkunst, allen Reiz der Erfindung an, diese Seite interessant und<lb/> dramatisch wirksam zu machen. Die Handlung wird sehr einfach, sie dient vor¬<lb/> zugsweise dazu, die so gezeichneten Charaktere zu Präsentiren. Sie ist in Ge¬<lb/> fahr, dabei zur Nebensache zu werden. Was in dem Stück zum drama¬<lb/> tischen Abschluß gebracht wird, ist der geführte Beweis, daß Celimene eine<lb/> Kokette, daß Tartüffe ein Heuchler, daß Trissotin ein charakterloser Dichterling<lb/> ist. Denn daß die Liebenden über die Hindernisse siegen, welche ihnen durch<lb/> den verkehrten Charakter in den Weg geworfen wurden, ist nur Nebensache,<lb/> auf ihnen ruht nicht mehr das Hauptinteresse des Stückes. Während aber die<lb/> Handlung an Bedeutung verliert, tritt die Personenzeichnung mächtig in den<lb/> Vordergrund. Das Schildern einer socialen Verbildung in einer Person von<lb/> dramatischer Bewegung ist für den Dichter wie für den Schauspieler eine große<lb/> und lockende Aufgabe, sie gestattet reichliche Ausführung, schöne Details, ihr<lb/> Verständniß der Welt, ihre Kenntniß des menschlichen Herzens vermögen sich</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0146]
nehmer an dem Proceß einer innern Befreiung. Der Misanthrop Möliöres
dagegen., auch ein edler Mann, der wärmsten Theilnahme würdig, wird vom
Dichter nicht dargestellt, wie er von seinem Menschenhaß frei wird, er bleibt
trotz der lebhaften Bewegung, welche ihm das Stück in die Seele wirft, vom
Anfang bis zum Ende unverändert, ja sein Menschenhaß erhält durch die Ereig¬
nisse fast Recht, wir sind am Ende des Stückes dem Hauptcharakter gegenüber
soweit wie im Anfange. Und das Stück ist nach unsern Vorstellungen ein
Trauerspiel, nur daß in den Situationen vorzugsweise die komische Seite her¬
ausgekehrt wird. Das Interesse Molieres war nur. zwei scharf charakterisirte
Rollen, den ernsten Menschenfeind und die kokette Dame gegenüberzustellen, den
Gegensatz und die Reibungen für seine meisterhafte Scenenführung auszubeu¬
ten. Seine Dichterkraft in der Darstellung der beiden contrastirenden Gemüths¬
anlagen, welche hart und grell wie Mineralfarben nebeneinanderstehen, ist un¬
übertrefflich, die Details der höchsten Bewunderung werth, und mit der Bühnen'
kraft seiner Erfindung kann sich die unsers Lessing nicht vergleichen. Dennoch
ist in Lessing eine höhere und vollkommnere Empfindung des dramatischen Le¬
bens. Das Menschengeschlecht war seitdem ein Jahrhundert älter, klarer,
hoffnungsreicher geworden. Aber über Lessing ist man bei uns trotz der massen¬
haften Lustspielliteratur doch eben nicht hinausgekommen, es sind alles nur An¬
läufe geblieben/
Und in der That hat ein großer und sichrer Fortschritt auf diesem Wege
wieder mit einer Schwierigkeit zu kämpfen, welche Molisre in den Stücken
seiner letzten Periode bereits überwunden hatte. Diese Schwierigkeit liegt in
der Bedeutung der Handlung oder Intrigue für das Stück. Die Charakter¬
zeichnung in der Weise Moliöres macht in den Hauptpersonen eine Wun¬
derlichkeit, Lächerlichkeit. Verkehrtheit zum Mittelpunkt des Interesses, sie wendet
die höchste Dichterkunst, allen Reiz der Erfindung an, diese Seite interessant und
dramatisch wirksam zu machen. Die Handlung wird sehr einfach, sie dient vor¬
zugsweise dazu, die so gezeichneten Charaktere zu Präsentiren. Sie ist in Ge¬
fahr, dabei zur Nebensache zu werden. Was in dem Stück zum drama¬
tischen Abschluß gebracht wird, ist der geführte Beweis, daß Celimene eine
Kokette, daß Tartüffe ein Heuchler, daß Trissotin ein charakterloser Dichterling
ist. Denn daß die Liebenden über die Hindernisse siegen, welche ihnen durch
den verkehrten Charakter in den Weg geworfen wurden, ist nur Nebensache,
auf ihnen ruht nicht mehr das Hauptinteresse des Stückes. Während aber die
Handlung an Bedeutung verliert, tritt die Personenzeichnung mächtig in den
Vordergrund. Das Schildern einer socialen Verbildung in einer Person von
dramatischer Bewegung ist für den Dichter wie für den Schauspieler eine große
und lockende Aufgabe, sie gestattet reichliche Ausführung, schöne Details, ihr
Verständniß der Welt, ihre Kenntniß des menschlichen Herzens vermögen sich
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